Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
besorgte sich im großen Umfang Vorlesungsmitschriften von höheren Studienjahren und glaubte, sich damit den Lehrveranstaltungsbesuch seines Studienjahres sparen zu können. Als Entschuldigung gab er auch noch an, das entspreche genau seinen Vorstellungen vom individuellen Studieren!
Jens blickte zu Tembrock, ihre Blicke trafen sich erneut.
Kollegin Erdmann schnarrte ihren vorformulierten Text weiter herunter:
Aussprachen in der Gruppe wich er bewusst aus. Außerdem beteiligte er sich kaum am FDJ -Gruppenleben. Betont werden muss noch, dass die Seminargruppe sein Verhalten in keinster Weise entschuldigt, da er das Vertrauen seiner Kommilitonen in gröbster Art und Weise missbraucht hat .
Sie legte ihren Zettel hin und schaute in die Runde. Ihren nächsten Satz musste sie nicht ablesen.
Nach Gesprächen mit der Gruppe bin ich der Meinung, dass er die Anforderungen an einen sozialistischen Studenten nicht erfüllt und demzufolge zumindest ein Jahr in der Produktion arbeiten und sich bewähren sollte.
Jens hatte die ganze Zeit still da gesessen und aufmerksam zugehört. Der Vorsitzende der Disziplinarkommission sah ihn an.
Haben Sie etwas zu Ihrer Verteidigung zu sagen?
Jens antwortete nicht. Noch nicht.
Ihm war jetzt klar, dass man ihn nur pro forma eingeladen hatte. Es sollte so aussehen, als gebe es ein faires Verfahren.
Jens hatte in den Stunden vor diesem Termin in Ruhe nachgedacht und versucht, sich den Ablauf vorzustellen. Er hatte bei seinen Reisen die Erfahrung gemacht, dass Probleme leichter zu bewältigen sind, wenn er sich deren möglichen Ablauf bereits im Voraus ausmalte.
Er blickte erneut in die Runde, doch niemand schaute ihm in die Augen. Der Vorsitzende wurde ungeduldig.
Ja wollen Sie nicht endlich mal was sagen?
Jens wartete noch einen Moment ab.
Er wusste, wer sich an die Regeln hielt und die Mächtigen nicht reizte, der wurde in Ruhe gelassen. Er hatte gegen diese Grundregel verstoßen, ja. Aber er wollte der Macht mit Anstand begegnen, wenigstens in diesem Moment des Tribunals über ihn. Er dachte:
Ich bin nicht der Spielball, den ihr treten könnt. Ihr seid nicht die alleinigen Herren des Verfahrens.
Jens begann seine Verteidigungsrede.
Es gibt verschiedene Perspektiven, aus denen man mein Verhalten beurteilen kann.
Er habe ihre Einschätzung vernommen, er wolle nun versuchen, eine andere Sicht der Dinge darzulegen.
Wenn er Vorlesungen versäumt habe, dann sei er nicht etwa zu Hause geblieben. Er habe nachweislich andere Fachvorlesungen besucht, die er für sein Studium als wichtig angesehen habe.
Was stört Sie daran, fragte er in die Runde , dass ich mir bewusst Wissen aneigne? Das waren doch spannende, lehrreiche Vorlesungen für mich. Warum wollen Sie jemanden dafür maßregeln?
PROFESSOR TEMBROCK saß immer noch mit verschränkten Armen da. Jens glaubte ihm anzusehen, dass er diese Prozedur ungerecht oder zumindest unangemessen fand. Aber auch der berühmte Professor sagte nichts. Auch er sah Jens nicht mehr an, sondern starrte an die Wand.
Dabei kannten sie sich gut.
Als Jens noch völlig neu an der Uni war, hatte der erfahrene Wissenschaftler ihm, dem Erstsemester, sein wertvolles, privates Tonbandgerät anvertraut. Damit durfte Jens nach Hiddensee fahren, um seltene Vogelstimmen aufzunehmen.
Jens hatte Tembrock mit der Erzählung beeindruckt, dass er als Schüler fast einen ganzen Sommer am Greifswalder Bodden verbracht hatte. Er hatte ihm erzählt, wie er jeden Tag begeistert von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang am Strand unterwegs gewesen war, um möglichst alle Brutpaare des Sandregenpfeifers von Lubmin über Greifswald, Stralsund bis zur Südküste von Rügen mit unterschiedlichen Farbringen zu versehen. Tembrock, der am Institut ein gigantisches Tierstimmenarchiv mit mehr als 120000 Aufnahmen aufgebaut hatte, kannte zwar schon drei verschiedene Rufe von Sandregenpfeifern, doch Jens berichtete ihm von fast einem Dutzend unterschiedlicher Rufe, die er am Boden gehört hatte. Er habe anhand der Rufe sogar unterscheiden können, ob das Revier besetzt, die Eier gelegt oder die Jungvögel schon geschlüpft waren.
Wenn jemand von Bioakustik so begeistert sei, müsse er das doch ausnutzen und unterstützen, hatte Tembrock damals zu Jens gesagt.
Jetzt saß der Gelehrte, der ihn damals mit seinem Forscherelan angesteckt hatte, in der Disziplinarkommission und brachte kein einziges Wort über die Lippen.
Tembrock sprang ihm nicht zur Seite, aber allein sein Vorbild da
Weitere Kostenlose Bücher