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Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wensierski
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Stelle, wo das Vorderhaus fehlte und nur noch die Hinterhäuser standen, musste es sein. Marie sah die Hausnummer nicht sofort, denn an der Brandmauer des Nachbarhauses zeichnete sich nur noch der Schatten des einstigen Vorderhauses ab.
    Ein gutes Motiv für ein Bild, dachte Marie. Ähnliche durch Bombentreffer verursachte Lücken in der Bebauung gab es seit dem Krieg überall in der Stadt, nicht nur in Prenzlauer Berg.
    Der Treppenaufgang im Hinterhaus roch muffig. Eine Klingel im vierten Stock gab es nicht. Sie klopfte auf Verdacht und hörte durch die Tür, wie sich jemand über den Flur kommend näherte.
    Jule öffnete, umarmte Marie und zog sie den Flur entlang in ihr Zimmer. In den Raum fiel helles Sonnenlicht. Marie faszinierte, wie der Staub im Zimmer glitzerte, wie er von Jule aufgewirbelt wurde, als sie um eine große Holzplatte lief, die das Zimmer weitgehend ausfüllte.
    Durch ein Loch in der Mitte der Platte reckte sich ein in einem mit Wasser gefüllten Eimer stehender dünner Birkenstamm empor, dessen Äste sich unter der Decke im ganzen Raum verzweigten. An den Spitzen waren frische, hellgrüne Birkenblätter herausgewachsen. Außerdem baumelten an ihnen kleine Figuren, bunte Papierblumen und schmale Stoffstreifen.
    Auf der Platte um den Stamm herum standen dicht gedrängt weiße Schachteln. Sie waren oben offen, manche hatten Türen an den Seiten. Marie erkannte im Inneren der Schachteln Miniaturmodelle von Theaterbühnen. Schauspieler, Kulissen, komplette Bühnenbilder.
    Was für eine Welt war hier entstanden! Marie wusste nicht, wo sie zuerst hinsehen sollte.
    Jule redete, seitdem sie ihr die Tür geöffnet hatte, ununterbrochen auf Marie ein und nahm dabei einige Schachteln der Reihe nach in die Hand, hob sie in die Höhe, drehte sie und zeigte sie Marie von allen Seiten.
    Schau, Molières Menschenfeind. Das war schwer, da geht es ja um Kompromisse mit der Wahrhaftigkeit. Ich hab’ hier die fünfte Szene des dritten Akts dargestellt. Da sagt er den schönen Satz: »Wer nicht die Gabe hat, seine Gedanken zu verstecken, hat hierzulande sehr wenig zu suchen.« Und hier, das ist der Faust! Siehst du das Gretchen? Faust sitzt auf dem Kühler des Trabi, mit dem ist Mephisto vorher auf die Bühne gefahren. Das hier ist für Hamlet. Siehst du sein Grab aus frischer, nasser Erde? Das Bild hier hab’ ich für eine Operette entworfen. Aber die Bühne ist geteilt, siehst du? Bei dem hier kann man sogar die Bühne drehen, probier es mal! Die Kostüme sind hinten und vorne vollkommen unterschiedlich, jeder Schauspieler kann blitzschnell seine andere Rolle spielen …
    Es dauerte eine Weile, bis Marie dieses Feuerwerk an Entwürfen und Ideen verkraftet hatte. Jule hatte diese kleinen Welten alle selbst gebaut, viel mehr, als man an der Kunsthochschule je von ihr verlangt hatte.
    Jule kam ihr angenehm verrückt vor, und Marie fühlte sich hier genau richtig. Sie hatte ihren Entwurf für das Bühnenbild der Verkauften Braut dabei und erzählte, wo sie bei der Arbeit stecken geblieben war.
    Später sprachen die beiden eine Weile über ihre Zukunftspläne. Marie erzählte von ihrer Zeit bei den Filmstudios in Babelsberg. Wie sehr es ihr gefallen hatte, als sie bei Dreharbeiten mit dabei war und der kreativen Gruppe mit angehörte. Und welche bekannten Schauspieler sie dabei kennengelernt hatte, Männer wie Kurt Böwe, Henry Hübchen oder Uwe Kockisch. Da würde sie später gern einmal arbeiten.
    Jule hatte ein Praktikum an der Volksbühne gemacht, einem der bekanntesten Ost-Berliner Theater. Die Bühnenbildnerin hätte sie gerne sofort eingestellt. Jule könne sich aber erst wieder bei ihr melden, wenn sie ihren Abschluss in der Tasche habe.
    Aber den bekomme ich wohl nicht.
    Marie erschrak.
    Eine Vertreterin der Hochschulleitung hatte Jule vor wenigen Tagen eröffnet, dass sie ihren Studienplatz verlieren würde. Die Hochschule sei mit ihren Leistungen nicht so zufrieden, wie es erforderlich sei. Es gebe Hunderte junge Leute in der Republik, die eine solche Chance besser nutzen würden als sie.
    Nach einem kurzen Schweigen sagte Jule:
    Wahrscheinlich ist der wahre Grund, dass mein Bruder einen Ausreiseantrag gestellt hat .
    Sie müsse sich wohl damit abfinden. Es sei ihr inzwischen auch egal.
    So oder so. Ich habe keine Chance, dagegen anzugehen.
    Jule schaute trotzig. Marie sah aber, wie es ihrer neuen Freundin gerade noch gelang, die Tränen zurückzuhalten.
    Wenn die eine wie mich nicht wollen, dann will ich

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