Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Mittag breiter wurde und einige einzeln stehende Steinhäuser auftauchten, hielt der Fahrer an einem karg bewachsenen Platz an und die Fahrgäste stiegen aus. Es war grau und düster. Von den dreißig Mitreisenden kam einer auf sie zu, der ihnen bis dahin nicht aufgefallen war. Er trug Schlips und Anzug und wollte wissen, was sie hier in der Gegend machten. Jens erzählte wieder einmal die Geschichte von den Ornithologen und dass sie ihrer Gruppe vorausfahren würden.
Marie interessierte sich währenddessen für die dampfende Garküche am Straßenrand, auf die alle zusteuerten. Wie eine Raststätte, dachte sie, nur mitten in der Wüste.
Um einen mit Holz befeuerten Ofen, aus dessen Mitte sich ein dickes Rohr erhob, wirbelten mehrere junge Mädchen. Zuerst gab es Weißbrot mit Zucker bestreut, eine für diese Gegend übliche Vorspeise, dann gefüllte Teigtaschen und Nudelsuppe mit Hammelfleisch. Marie hätte gern fotografiert, war aber unsicher, ob man nicht protestieren würde.
Nach ausgiebiger Rast ging die Fahrt weiter. Marie und Jens ließen sich nach einiger Zeit an einer Kreuzung im Nirgendwo absetzen.
Sie machten es sich mit ihren Rucksäcken bequem. Marie fütterte die beiden Agamen, die sie wie Haustiere mitgenommen hatte, mit Ameisen.
Weißt du was, Jens? Die beiden kleinen Drachen brauchen einen Namen. Was hältst du von Pantalone und Arlecchino? Aus der Commedia dell’Arte?
Jens hatte die Augen geschlossen und döste in der drückenden Mittagshitze.
Am Nachmittag hielt ein Lkw. Sie quetschten sich zu den Einheimischen auf die Ladefläche, auf harte Säcke voller Salz.
Der Wind brauste ihnen um die Ohren, sie sahen über die steinige Steppe weit bis zu den schneebedeckten Bergen des Altai. Dort oben gab es Schneeleoparden, irgendwo in der Wüste hier lebte noch der legendäre Gobibär, es gab die letzten Herden von Wildeseln, die man aber nur selten zu Gesicht bekam.
Der Fahrer hatte einen leicht eiernden Kassettenrekorder im Führerhaus und nach hinten raus, zur Ladefläche hin, hatte er einen Lautsprecher angebracht. In seiner Kabine drängten sich fünf Männer, und zu ihnen auf die Ladefläche stiegen immer wieder neue Passagiere. Jeder machte noch Platz, die Kinder schmiegten sich eng an ihre Mütter. Fast alle trugen Lederstiefel mit nach oben gebogenen Spitzen und einfache, bunt bestickte Deels, manche Frauen hatten sich um die Hüften einen orangefarbenen Seidenschal gewickelt. Die Steine und Furchen in der Fahrrinne ließen den Wagen wie ein Schiff hin- und herschaukeln.
Die Männer und Frauen sangen die volkstümlichen Melodien, die aus dem Lautsprecher erklangen, begeistert mit. Marie erfreute ihre Sitznachbarn, wenn sie versuchte, die mongolischen Lieder mitzusingen.
Die Berge wurden kleiner, bald war nur noch karge Steppe um sie herum. Die Sonne brach wieder durch, und über ihnen zogen scharenweise Vögel wie selbstverständliche Begleiter des Lkws.
Die weite Steppe, der Gesang der Fahrgemeinschaft, die Vögel am Himmel – für Marie und Jens hätte die Fahrt ewig weitergehen können.
DAS OFFENE LAND der Wüstensteppe ermöglichte es dem Fahrer, andere Fahrzeuge schon von weitem auszumachen. Er beschleunigte die Fahrt, als er sah, dass sich zwei Lkws von rechts näherten, um sie an der nächsten Pistenkreuzung zu treffen.
Jens beschloss, dass es hier günstig wäre umzusteigen. Sie verabschiedeten sich und bemühten sich mit ihrem Gepäck um einen Platz in einem der anderen Wagen, die ebenfalls voll besetzt und dazu noch hoch beladen waren. Ein Fleckchen auf einer Ladeplane, neben einem festgebundenen Ziegenbock, war noch frei.
Der zweite Wagen hatte eine komplette Jurte geladen. Offenbar waren sie jetzt im Treck einer Nomadenfamilie gelandet, die gerade dabei war umzuziehen.
Jens versuchte sich mit seinen paar Brocken Mongolisch zu verständigen. Marie grüßte: Sayn bayna uu! – Guten Tag! Das sorgte für freundliche Gesichter. So fuhren sie weiter bis in den Abend. Der Tag verabschiedete sich mit einem prächtigen Farbenspiel des Sonnenuntergangs.
Noch in der einsetzenden Dämmerung wurde mitten in der Steppe Rast gemacht. Auch der Ziegenbock wurde vom Lkw gehoben, Marie freute sich, dass ihm ebenfalls eine Pause gegönnt wurde.
Die Männer holten einen kleinen Metallofen von der Ladefläche, stellten ihn neben den Lkw und heizten ihn mit getrockneten Kuhfladen an, um darauf den salzigen Milchtee zu kochen. Die Kinder spielten mit den trockenen Fladen. Sie bauten Türme
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