Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
mit nach China zu kommen. Mehr nicht.
Aber wenn sie es bis nach China hinein schaffen würden, warum sollte dann alles zu Ende sein? In Peking könnten sie sich in der westdeutschen Botschaft problemlos einen West-Pass geben lassen. Er war dazu bereit, doch Jens wusste, dass Marie diesem Teil seines Plans nicht folgen wollte. Er hoffte, dass sie ihre Ansicht noch ändern würde. Mit dem West-Pass in der Tasche könnten sie nach Japan, Australien oder Peru fahren. Diese Länder würden ihn nach China auch sehr interessieren. Aber wieder zurück nach Ost-Berlin? Was sollte er dort noch? Er hatte nichts mehr, was ihn dort hielt. Und Marie?
Jens lauschte den Regentropfen auf der Zeltplane und schlief irgendwann ein.
Am nächsten Tag nahm sie ein Nomade in seinem Jeep mit. Er sprach erstaunlich viel Russisch und bot ihnen zum Frühstück ein paar steinharte, getrocknete Scheiben Aruul an. Sie hatten die weißen Scheiben aus Quark auf einigen Jurtendächern gesehen, wo sie zum Trocknen auslagen. Durch die Sonne wird der Käse hart und lagerungsfähig. Sehr hart. Marie lutschte eher an den säuerlichen Stückchen, als davon abzubeißen. Der ungewürzte Käse schmeckte ihr überhaupt nicht, aber sie wollte dem Fahrer die gute Laune nicht verderben.
Die Wüste war steinig, weit verstreut zeigten sich ein paar vertrocknete Grasbüschel. Als sie eine Kuppe mit Blick auf ein Tal erreichten, hielten sie bei einem Owoo, einem heiligen Steinhaufen, an.
Der Fahrer stieg aus, umrundete ihn dreimal und legte noch drei Steine dazu. Marie und Jens machte es ihm nach. Die Steinhaufen hatten auch die kommunistischen Machthaber nicht beseitigen können und mit ihnen auch nicht den Glauben der Menschen an Schamanismus und die Naturgötter, denen man Opfer bringen muss.
Viele Owoos, so erzählte der Fahrer, seien als Zeichen des Aberglaubens zerstört worden, genau wie die buddhistischen Klöster überall in der Mongolei.
Die Kommunisten haben fast alle Tempel und Klöster niedergerissen und Tausende Mönche getötet. Sie haben ihre Kultgegenstände, die uralten Statuen, Glocken, Gewänder, Gebetstrommeln und sämtliche religiösen Schriften für immer vernichtet.
Als Marie genauer hinsah, entdeckte sie einen ausgebleichten Ast, der zwischen die Steine gesteckt war. Daran hatte jemand Pferdehaare gebunden, vielleicht von seinem besten Hengst geopfert, um die Götter gnädig zu stimmen, damit sie ihn beschützten.
Der Fahrer erklärte, dass es früher üblich war, auch Speisen, Münzen oder Tierschädel bei den Steinhaufen abzulegen. Jeder Berg, jedes Tal, jeder Weidegrund habe seinen Geist, die Steinhaufen seien eine Art Altar, auf dem man ihnen die Ehre erweise.
Marie, in deren Elternhaus Religion keine Rolle gespielt hatte, fand dies einleuchtend und sympathisch. Sie hatten schließlich selbst erlebt, wie schnell die Witterung umschlagen konnte. Bei einem der häufigen Gewitter war die Gefahr, vom Blitz getroffen zu werden, groß. Marie verstand den Trost, der in den Steinhaufen lag, den Schutz, den sie versprachen.
Der Fahrer hatte ihnen Tee eingeschenkt und verspritzte nun die letzten Tropfen aus seiner Kanne über die Steine und rief ihnen lachend zu:
Ich wünsche mir besseres Wetter und euch eine gute Reise!
DER WEG brachte sie zum kleinen Ort Bajanchongor. Ein paar Steinhäuser und Jurten mitten in der Wüste. Am Eingang des Ortes spielten Kinder mit alten Autoreifen. Der Fahrer setzte Marie und Jens direkt an einer Baracke ab. Die sandige Piste daneben sollte wohl eine Start- und Landebahn sein.
Sie erfuhren, dass sie am nächsten Tag versuchen könnten, bis Shinejinst mitzufliegen, dann seien es nur noch einhundertzwanzig Kilometer bis zur Oase Echin Gol. Das Flugzeug sei allerdings sehr klein und habe kaum Stauraum. Sie könnten nur das Notwendigste mitnehmen. Es gehe aber bald ein Lkw, der bringe ihnen das Gepäck einfach hinterher.
Das seltsame Angebot überzeugte sie, ein weiterer Flug über die Wüste Gobi klang verlockend. Sie schlugen ihr Zelt am Rande der Piste auf, und ohne weitere Komplikationen starteten sie am nächsten Morgen in den blauen Himmel.
In Shinejinst campierten sie außerhalb der Häuseransammlung auf einem Felsen, von dem sie besonders gut den Sonnenaufgang beobachten konnten. Er färbte die Steine und ihre Gesichter orangerot, als sie frühmorgens wach geworden waren und sich in der Morgenkühle an den Rand des kleinen Felsvorsprungs gesetzt hatten.
Außer ihrem Zelt und den Schlafsäcken
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