Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
alle auf, und es ging weiter.
Bei Tagesanbruch waren sie völlig geschafft da angekommen, wo Jens nie hingewollt hatte. In einer Art Lkw-Fahrer- und Reparaturzentrale, die von einem Russen geleitet wurde. Sie lag in einer kleinen Ortschaft. Jens erkundigte sich, wann es weitergehen würde, und erhielt als Antwort:
Sie müssen warten!
Das klang nach Schwierigkeiten. Sie wollten unbedingt vermeiden, kontrolliert zu werden, und die Gefahr bestand in einer Ortschaft eher als in der Wildnis. Um der Miliz zu entgehen, schulterten sie unauffällig ihre Rucksäcke und liefen aus dem Ort hinaus, bis sie auf einer Piste waren, die sie für die Straße hielten. Hier fühlten sie sich wieder frei. Ein Lkw hielt an, sie warfen ihr Gepäck auf die Ladefläche und setzten sich zum Fahrer ins Führerhaus.
Sie wurden durch tiefe Schlaglöcher auf der Strecke noch mehr als bisher durchgerüttelt, aber der Blick durch die Windschutzscheibe entschädigte sie für alles. In der Ferne grasten Kamelherden, halbwilde Pferde galoppierten in der Ebene mit dem Wagen um die Wette, auf der sonnenverbrannten Erde blühten hier und dort an die Trockenheit angepasste Gräser und leuchtend violett eine Thymiansorte. Immer wieder sahen sie ausgebleichte Tierschädel, Knochen und Rippen von Kühen, Ziegen oder Schafen. Steinfelder warfen in der tiefstehenden Sonne lange Schatten, was der Landschaft einen eigentümlichen Reiz verlieh.
Auch die Fahrpiste veränderte sich ständig. Glich sie anfangs einer Straße, auf der die Autos hintereinander fuhren, verbreiterte sie sich später so, dass die Fahrzeuge eher nebeneinander fuhren. Marie zählte bis zu fünfunddreißig Fahrspuren gleichzeitig. An Brücken oder vor Flüssen, die man durch eine Furt queren musste, vereinigten sich alle Spuren wieder zu einer einzigen.
Dort war auch die beste Gelegenheit, vorbeikommende Fahrzeuge zu kontrollieren. Für Marie und Jens, die beiden Ausländer ohne Reisegruppe, mit einer gefälschten Einladung in die Mongolei in der Tasche, waren dies gefährliche Orte.
Eine solche Brücke mit Kontrollstation sahen sie nun plötzlich auf sich zukommen, als es fast zu spät war. Marie stieß Jens an, sie saßen im Führerhaus und würden sicher kontrolliert werden. Eine Möglichkeit war, sich zwischen den Nomaden hinten auf der Ladefläche zu verbergen. Der Fahrer verstand nicht, warum sie wollten, dass er anhielt, aber schließlich tat er ihnen den Gefallen. Marie und Jens kletterten nach hinten, zogen eine Plane über sich und kamen ungesehen über die Brücke. Der Kontrollposten interessierte sich allein für den Fahrer und warf nur einen flüchtigen Blick zu den Nomaden auf der Ladefläche, die sich wegen der beiden Ausländer nichts anmerken ließen, sie mochten Kontrollen der Miliz auch nicht.
Auf der anderen Seite der Brücke hielt der Lastwagen. Jens und Marie sahen einige Jurten verstreut in der Steppe stehen, sie beschlossen, auf einem Hügel in der Nähe ihr Zelt aufzubauen, stiegen ab, sahen sich um, ob jemand sie beobachtete, und liefen los.
Verdammt , fluchte Jens plötzlich, ich habe unsere Regenplane auf dem Lkw vergessen. Ich muss noch einmal zum Wagen zurück.
Der Lastwagen stand glücklicherweise immer noch an der Brücke, und er fand sofort, was er suchte. Mit der Plane in der Hand lief er jedoch einem der Posten in die Arme, der ihn sogleich aufhielt. Jens hatte nichts dabei, keine Papiere, kein Geld. Er wunderte sich später darüber, aber diesmal half offensichtlich sein lautes Lamentieren, vielleicht lag es aber auch nur am einsetzenden Regen. Der Posten ließ ihn jedenfalls laufen, und Jens kehrte zu Marie zurück.
In sicherer Entfernung errichteten sie ihr Nachtlager. Bald brannte ein Feuer, Marie fütterte Arlecchino und Pantalone mit Ameisen und freute sich über ihr munteres Fressen.
Es regnete die ganze Nacht. Marie war längst eingeschlafen, Jens lag wach und grübelte. Ihre Abreise aus Ost-Berlin lag schon viele Wochen zurück. Sie hatten sich bisher in der Mongolei ziemlich frei bewegen können. Aber mit jedem Tag wuchs die Gefahr, bei einer Kontrolle erwischt und zurückgeschickt zu werden. Er wollte nicht mehr zurück. Der Pass, den sie bekommen hatten, war eine einmalige Chance. Es ist Zeit, nach China aufzubrechen, dachte er.
In Ulan Bator könnten sie jetzt den Versuch wagen, ein Visum für China zu bekommen. Dazu war keine gefälschte Einladung nötig, für China reichte es, einen Pass zu haben. Marie hatte ihm zugesichert,
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