Die verbotenen Evangelien: Apokryphe Schriften
Thomasevangelium um eine Sammlung von 114 teils synoptischen, teils gnostischen und teils bisher unbekannten Jesus-Sprüchen. Diese sind ohne ein übergreifendes Gestaltungsprinzip angeordnetund lediglich durch gelegentliche Stichwortassoziationen verbunden und gruppiert (z. B. Sprüche 25–26 „Auge“ 58–61: „Leben“; 96–99: „Reich“). Größtenteils bieten sie Worte Jesu, eingeleitet durch „Jesus sagte“ (wörtlich: „Das Sagen von Jesus“), gelegentlich finden sich Dialoge, die zumeist durch eine Frage der Jünger eingeleitet werden. Die Sammlung dieser Worte gibt sich durch den ersten Spruch und auch durch den nachgestellten Buchtitel „Das Evangelium des Thomas“ eindeutig als Verkündigung zu erkennen
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Fragen wir nach dem Verfasser des Thomasevangeliums, sind wir zwar auf den Apostel Thomas verwiesen, der als „ungläubiger Thomas“ (Joh 20,24–29) sprichwörtlich geworden ist, doch ist dies natürlich keine zuverlässige Zuweisung. Die in der Überschrift verwendete Namensform „Didymos Judas Thomas“ führt uns nicht zum Verfasser, aber wenigstens in die Region, in der das Thomasevangelium Verbreitung fand und vielleicht auch abgefasst wurde, nämlich nach Ostsyrien. Dort ist sie gebräuchlich gewesen und taucht in anderen Thomas zugeschriebenen apokryphen Werken auf. Beim Thomasevangelium kann man schon aufgrund seines Sammelcharakters davon ausgehen, dass es nicht von einem einzigen Verfasser stammt, sondern über einen längeren Zeitraum zu seinem in Nag Hammadi vorgefundenen Textbestand angewachsen ist. Darauf weisen ja auch die griechischen Fragmente der Papyri aus Oxyrhynchos mit ihren Abweichungen hin. Seine Entstehungsgeschichte zu klären, ist immer noch nicht zufriedenstellend gelungen, es ist aber möglich, einige Schneisen in den Wald der Forschungsthesen zu schlagen: 1. In seiner in Nag Hammadi gefundenen Form ist das Thomasevangelium eine gnostische Offenbarungsschrift, die aufgrund seiner Eigenart in die Frühgeschichte der Gnosis gehört. 2. Die Sammlung ist nicht einheitlich, sondern besteht aus älteren Sammlungen, wie sich an Wiederholungen von Sprüchen (z. B. Spruch 5 und 6; Spruch 56 und 80) und unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, z. B. in der Frage der Führungsposition bei den Jüngern, zeigt (Jakobus in Spruch 12, Thomas in Spruch 13). 3. Die Sprüche des Thomasevangeliums sind zeitlich unterschiedlich einzuordnen. Es gibt eher spätes Material, nämlich bestimmte gnostische Sprüche und solche, die sich deutlich als Umformungen der kanonischen Evangelien zu erkennen geben. Es gibt aber auch Sprüche, die selbst gegenüber den Synoptikern als ursprünglicher wirken (Sprüche 31; 64) und solche, die ohne Parallelen sind, aber hohes Alter verraten (Spruch 98)
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Kommen wir der Verkündigung Jesu bei einzelnen Sprüchen des Thomasevangeliums näher als bei den Synoptikern? – Eine spannende Frage, und sie dürfte in Einzelfällen in der Tat zu bejahen sein. Das Thomasevangelium führt uns teilweise vielleicht so nahe an den historischen Jesus heran wie die Logien- oder Spruchquelle Q, die ja nur aus den Evangelien des Matthäus und Lukas erschlossen ist. Zumindest aber ist das Thomasevangelium dieser Spruchquelle der Form nach sehr ähnlich und bestätigt damit die These, dass es solche Spruch-„Evangelien“ wie Q in der Frühgeschichte des Christentums tatsächlich gegeben hat
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„Wer die Auslegung dieser Worte findet, wird den Tod nicht kosten.“ – Der erste Spruch des Thomasevangeliums gibt uns einen ersten Hinweis darauf, was für eine Art Evangelium hier vorliegt. Die Sprüche Jesu offenbaren die Wahrheit des Vaters, und doch ist diese Wahrheit, die das Evangelium zu vermitteln hat, nicht jedermann zugänglich. Nur der, der es versteht, in das tiefere Verständnis der Schrift einzudringen, wird wirklich „verstehen“. So gleicht das Thomasevangelium einer esoterischen Lehre, lädt aber – unter anderem durch den mehrfachen, auch variierten Weckruf „Wer Ohren hat, soll hören!“ (Sprüche 8, 21, 24, 63, 65, 96) – seine Leser gleichzeitig dazu ein, seinen Code zu knacken. Der Verschlüsselung entsprechend, enthält das Thomasevangelium neben einfachen Worten, die aber einen verborgenen Sinn haben, einige unverständlich erscheinende Sprüche, Doppeldeutigkeiten und – oberflächlich betrachtet – auch einige Widersprüche. Ein Beispiel für Letztgenanntes: In Spruch 22 sagt Jesus, dass der Unterschied von männlich und weiblich
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