Die verbotenen Evangelien: Apokryphe Schriften
der Erweiterung der Erkenntnis, also der Gnosis, und sei nur Eingeweihten, wie z. B. Clemens selbst, zugänglich. Das dritte mit dem sich Theodoros, der Adressat des Briefes des Clemens, herumschlagen muss, sei eine Fälschung der Karpokratianer, die das zweite Evangelium mit ihren häretischen Zusätzen zu einem dritten umgestaltet hätten. Bei den Karpokratianern handelt es sich Clemens zu folge um eine gnostische Sekte, die im 2. Jahrhundert in Ägypten bezeugt ist und sich durch „große Zügellosigkeit, Güter- und Weibergemeinschaft“ausgezeichnet haben soll. Clemens warnt nur in seinem Brief vor dem gefälschten geheimen Markusevangelium der Karpokratianer und zitiert anschließend aus dem „echten“ geheimen Markusevangelium
.
Im Fragment des Briefes ist der auf der zweiten und dritten Seite erhaltene Abschnitt mit 17 Textzeilen zwar keineswegs umfangreich, doch der Inhalt scheint trotzdem sensationell zu sein. Morton Smith zumindest meinte, wenn der Brief tatsächlich von Clemens, also aus dem Ende des 2. Jahrhunderts stamme, seien die Konsequenzen für die Geschichte der Frühen Kirche und für die Kritik des Neuen Testaments revolutionär. So behauptet er, aus dem Textstück des Geheimen Markusevangelium ergäbe sich, dass Jesus ein geistbesessener Magier gewesen sei, der ethisch-moralische Freizügigkeit gepredigt habe
.
In der Tat stellt der Auszug einen durchaus eigenwilligen Jesus dar. Der Text schildert eine Totenerweckung – sie ist zwischen den Synoptikern und Johannes anzusiedeln – und anschließend, wie Jesus bei dem Auferweckten gastlich aufgenommen wird. In einer mehr als zweideutig geschilderten Szene wird der Jüngling von Jesus nachts in die Geheimnisse des Gottesreiches eingeweiht. Nachdem vorher davon die Rede ist, dass der Auferweckte Jesus lieb gewann, als er ihn erblickte, und er dann nur mit einem Leinenüberwurf bekleidet zu Jesus kommt, ist hier offensichtlich Spielraum für Vermutungen über eine homosexuelle Beziehung zwischen Jesus und dem Jüngling, die Morton Smith auch zielsicher anstellt. Der Text endet damit, dass Jesus den Mann verlässt und nach Jericho kommt, wo er mit Frauen zusammentrifft, die er nicht willkommen heißen will
.
Morton Smith fotografierte – seiner eigenen Aussage zufolge – die entsprechenden Seiten sofort, ließ sich aber mit der Veröffentlichung des Fragments reichlich viel Zeit. Und wie es der Zufall wollte: Als er seine Textausgabe 1973 veröffentlichte, war das Manuskript in Mar Saba nicht mehr zu finden. Eine Nachprüfung des Textes durch andere Wissenschaftler und die zeitliche Bestimmung der Handschrift waren also unmöglich. Es verwundert daher kaum, dass sich seit der Veröffentlichung des Textes 1973 die Gelehrtenwelt darüber streitet, ob die kurze Passage insgesamt eine Fälschung seitens des Entdeckers darstellt oder ob der Fund zwar echt, der Text aber eine Fälschung des 18. Jahrhunderts ist – der Text, den Morton Smith fand, war eine Minuskel aus dem 18. Jahrhundert, die den Brief des Clemens von Alexandrien wiedergab – oder ob es sich tatsächlich um einen Brief desClemens von Alexandrien handelt, wie Smith dies behauptet. Aber selbst diejenigen, die davon ausgehen, dass das von Morten Smith veröffentliche Fragment echt ist, sind sich bezüglich seines Wertes für die Jesusforschung uneinig. Während die einen es für eine bedeutungslose Zusammenstellung verschiedener Passagen und Aspekte der kanonischen Evangelien halten, sehen die anderen es als unabhängiges Zeugnis einer alten Jesustradition oder als ein später verfasstes Ergänzungsstück für das kanonische Markusevangelium an. Eckhard Rau sieht neuerdings in dem vorliegenden Fragment den Versuch, das im kanonischen Markusevangelium etwas seltsam anmutende Stück von dem, bei der Verhaftung Jesu nur mit einem Leinentuch bekleideten Jüngling (Mk 14,51–52) „aus seiner rätselhaften Isolierung zu befreien“
.
Das Fragment des Clemensbriefes – eine Fälschung oder eine bedeutende Entdeckung? Diese Frage wird immer wieder gestellt, letzte Sicherheit können wir aber erst erhalten, wenn sich das Manuskript wiederfindet. Ob das je der Fall sein wird?“
Betrachtet man die Intention dieses kurzen Textstücks so zeigt sich hier eine Nähe zu anderen, meist gnostischen Evangelien, die eine tiefere und esoterischere Jesuslehre postulieren, als sie durch Petrus, den Repräsentanten der Großkirche, verkündet wird. Es geht um eine geheime Lehre bezüglich des
Weitere Kostenlose Bücher