Die verbotenen Evangelien: Apokryphe Schriften
aufgehoben werden müsse, in Spruch 114 aber will Jesus Maria angesichts des Vorschlags von Petrus, sie fortzuschicken, männlich machen. Das Befremdliche, Frauenfeindliche, auch widersprüchlich Erscheinende löst sich dem Leser auf, der erkennt, dass es in beiden Fällen um die Aufhebung der Geschlechtsunterschiede geht. Jesus will Maria Magdalena, (es handelt sich bei Maria wahrscheinlich nicht um Jesu Mutter, da auch aus anderen gnostischen Texten das eher spannungsreiche Verhältnis von Petrus und Maria Magdalena bekannt ist), also dazu bringen, dass sie „das Männliche und Weibliche zu einem Einzigen macht“ Petrus’ Polemik, dass Frauen des ewigen Lebens nicht würdig sind, widerspricht Jesus, indem er darauf verweist, dass eine Frau „männlich“ werden könne. Dass der Verfasser des Textes dabei auch in der Formulierung auf dem Hintergrund der bestehenden gesellschaftlichen, patriarchalischen Wirklichkeit denkt,wird man ihm nicht vorwerfen können. Er ist, wie die biblischen Schriftsteller auch, ein Kind seiner Zeit
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Interessant an dieser Stelle ist, dass man solche Argumentationen nicht nur im gnostischen Milieu antreffen kann, sondern auch in buddhistischen Schriften. Ob es sich hier um strukturelle Ähnlichkeiten handelt oder ob tatsächlich historische Einflüsse der Gnosis auf den Buddhismus oder umgekehrt vorliegen, kann hier nicht eindeutig geklärt werden. So spielt das Thema der Geschlechtsumwandlung beziehungsweise die Überwindung jeglicher geschlechtlichen Differenzierung in etlichen Schriften des Mahâyânabuddhismus eine wichtige Rolle. Im „Lotos-Sûtra“ werden z. B. Frauen bzw. weibliche Bodhisattvas, welche die religiöse Vollkommenheit erreicht haben, durch eine Geschlechtswandlung in männliche Wesen verwandelt, um so die völlige Erlösung zu erlangen (vgl. Thomasevangelium Spruch 114). In der Schrift „Königin Shrîmâlâ und das Brüllen des Löwen“ wird die Erlösung allen Wesen, welche die Kategorien männlich und weiblich überwunden haben, unabhängig vom Geschlecht, zu Teil (vgl. Thomasevangelium Spruch 22). Und um die Überwindung dieser Dualität geht es letztlich in all diesen Texten. Dass auch im Buddhismus wie im Thomasevangelium soziale und gesellschaftliche Situationen Einfluss auf die Texte genommen haben, kann nicht weiter überraschen. Wo das Weibliche als minderwertig gilt, ist es nahe liegend, die Einschmelzung geschlechtlicher Polaritäten auf Kosten des Weiblichen durchzuführen
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Anders als bei den kanonischen Evangelien spielt im Thomasevangelium die Passion Jesu eine allenfalls untergeordnete Nebenrolle (Spruch 55 und 65), und auch eschatologische, das Endschicksal des Menschen betreffende Züge der Botschaft Jesu, sind ausgeblendet, ebenso die apokalyptischen Aussagen, die sich auf das Wiederkommen des Menschensohnes beziehen. Die Verkündigung des Reiches Gottes dagegen steht wie bei den Synoptikern auch hier im Zentrum, jedoch in ganz unterschiedlicher Bedeutung. Ist das Reich Gottes dort ein Heilsgut der Zukunft, das im Wirken Jesu schon teilweise anbricht und sichtbar wird, so ist es im Thomasevangelium eigentlich schon da: „Das Königreich des Vaters ist auf der Erde ausgebreitet, und die Menschen sehen es nicht“ (Spruch 113). Erreichen können dieses Reich nur sehr wenige, „einer aus Tausend, zwei aus Zehntausend“ (Spruch 23). Sie sind die Einzelnen und Auserwählten (Sprüche 49; 75), jene, die aus dem Licht entstanden sind (Spruch 50), denn nur ihnen ist es möglich, wiederdorthin zurückzukehren. Doch in der Welt haben diese Erleuchteten ihren Ursprung vergessen. Jesus erinnert sie daran und ermöglicht ihnen damit den Weg ins Reich. Dieser Weg der Erkenntnis (= Gnosis) führt über Selbsterfahrung zur Verwerfung der Welt ebenso wie zur Verwerfung des Fleisches, mit dem der Mensch an diese Welt gebunden ist. „Wer die Welt erkannt hat, fand eine Leiche, und wer eine Leiche fand, dessen ist die Welt nicht würdig“ (Spruch 56)
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Das Reich Gottes selbst, in das nur der, der die Wahrheit erkannt hat und wieder wie ein Kind geworden ist, eintreten kann, wird als Ruhe beschrieben, als ein Zustand der erreichten Selbsterkenntnis und der Identität, der in der Welt immer wieder gefährdet ist und gefährdet bleibt. Menschliche Unterstützung kommt dem Erwählten dabei nicht zu. Das Thomasevangelium hat keinen Gemeinde- oder Kirchenbegriff und dies aus gutem Grund. Auch bei den Jüngern selbst gibt es Unterschiede, jeder steht für
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