Die verbotenen Evangelien: Apokryphe Schriften
kanonischen Evangelien hinaus bietet das Evangelium vor allem in seinem dritten Teil (Kapitel 12–16) reichhaltigen Stoff eigenständiger Prägung
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Theologisch betrachtet geht es dem Nikodemusevangelium – ähnlich wie dem Petrusevangelium – auch darum, die Auferstehung Jesu als beweisbares Faktum darzustellen. Zweifel, die sich an der Zuverlässigkeit der Auferstehungszeugen erhoben haben, sollen ausgeräumt werden. Sind in den kanonischen Evangelien primär Frauen die Erstzeugen der Auferstehung Jesu, so erhalten sie im Nikodemusevangelium durchaus neutrale Rückendeckung. Gemäß dem in Kapitel 7 ausgesprochenen jüdischen Gesetz „eine Frau nicht als Zeugin zuzulassen“, verbürgen sich nicht Frauen für die Auferstehung Jesu, sondern die Wachen am Grab Jesu als mittelbare Augenzeugen. Damit werden die Römer zu Offenbarungszeugen, die auch den Juden ihre Unfähigkeit zu glauben deutlich machen (13,2). In ähnlicher Weise ist auch Pilatus, der römische Statthalter, charakterisiert. Bei ihm tritt eine theologische Tendenz, die schon in den kanonischen Evangelien angelegt ist, besonders stark in Erscheinung: Die Schuld am Tod Jesu trifft einzig und allein die Juden. Die Römer, repräsentiert durch Pilatus, tragen keinerlei Verantwortung für die Ereignisse. So ist Pilatus nicht ein uninteressierter Richter oder gar strenger Statthalter, sondern unternimmt zahlreiche Anstrengungen, das Vorhaben der Juden, Jesus zu töten, zu verhindern. Er unterstreicht mehrmals die Schuldlosigkeit Jesu, spricht sich von der Verantwortung für den Tod Jesu los und gibt sich damit nahezu als heimlicher Jünger Jesu zu erkennen. Dieses Bild von Pilatus hat durchaus weitergewirkt. Wir erkennen es wieder in der Literatur, so etwa in Gertrud von Le Forts Novelle „Die Frau des Pilatus“, aber zum Beispiel auch in der koptischen Kirche, wo Pilatus noch heute als Christ und Heiliger verehrt wird
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Sind damit die Römer, was den Tod Jesu betrifft, aus dem Schneider, so geht nun die Schuld am Tode Jesu ausschließlich auf das Konto der Juden. Angesichts der verheerenden Wirkungsgeschichte des unsäglichen Slogans von den Juden als Gottesmördern sind hier aber einige Klarstellungen nötig: Das Nikodemusevangelium unterscheidet vielfach zwischen den Juden und ihren Führern. So gibt es erstens zu erkennen, dass unter den beim Prozess Jesu Versammelten zahlreiche Juden sind, die Jesu Tod nicht wollen, ja sogar – wie es in Kapitel 4,5 heißt – angesichts der Aussicht auf eine Verurteilung Jesu weinen. Zweitens sind die Fürsprecher Jesu beim Prozess allesamt Juden, unter ihnen mit Nikodemus sogar ein Mitglied des Synhedriums, und drittens zielt das Evangelium ja darauf ab, dass die Juden, die für den Tod Jesu verantwortlich sind, durch die Geschehnisse nach der Auferstehung zur Anerkennung Jesu kommen. Der Tod Jesu ist zwar nicht mehr rückgängig zu machen, aber es scheint doch so, dass die Schuldigen nicht die auf ewig Verdammten sind, sondern bei Gott immer noch eine Chance haben. Am Ende des 20. nachchristlichen Jahrhunderts ist freilich auch diese Heilsperspektive durch Bekehrung für Juden wie für Christen nicht mehrzeitgemäß eine christliche Judenmission auf dieser Grundlage nach dem Holocaust mehr als problematisch
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P ILATUSAKTEN
P ROLOG
Zu Ananias siehe die Einführung.
Ich, Ananias, Leibgardist im Rang eines Präfekten, ein Gesetzeskundiger, habe aus den Heiligen Schriften unseren Herrn Jesus Christus erkannt, bin zum Glauben gekommen und wurde auch der heiligen Taufe für würdig befunden. Ich forschte auch nach den Akten, die in jener Zeit über unseren Herrn Jesus Christus aufgesetzt wurden, und nach dem, was die Juden unter Pontius Pilatus niederlegten. DieseAkten fand ich auf Hebräisch, und Gottes Willen gemäß habe ich sie ins Griechische übersetzt, damit sie allen bekannt werden, die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen, im 17. Jahr der Königsherrschaft unseres Herrn Flavius Theodosius und im 6. des Flavius Valentianus, in der 8. Indiktion.
Ihr alle also, die ihr es lest und in ein anderes Buch übertragt, gedenkt meiner und betet für mich, damit Gott mir gnädig sei und mir meine Sünden erlasse, die ich gegen ihn begangen habe.
Friede den Lesern und Hörern und ihren Mitbewohnern. Amen.
Lk 3,1
Im 15. Jahr der Herrschaft des Cäsar Tiberius, des Königs der Römer, und des Herodes, des Königs von Galiläa, im 19. Jahr von seinem Beginn, am 8. Tag vor den Kalenden des April, also am
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