Die Verbrechen von Frankfurt. Frevlerhand
Gesichter, doch der Prediger war mit seiner Schreckensaufzählung noch nicht fertig.
«Die Pest wird kommen, da bin ich sicher. Doch selbst wenn Frankfurt verschont bleibt: Wie viele Kinder sterben, bevor sie ihren ersten Namenstag feiern? Und wie viele Frauen erleben es, ihre Enkel aufwachsen zu sehen?»
«Er hat recht», kreischte Mutter Dollhaus und wandte sich an die Zuhörer. «Er hat recht, er ist ein wahrer Prophet.»
Der Prophet durchschritt weiter die Zuhörerreihen. Vor Gustelies blieb er dieses Mal stehen. «Was meint Ihr über die Hölle? Was gibt es dort noch außer Krankheit, Siechtum, verfaulenden Ernten und sterbenden Kindern? Na? Fällt Euch etwas ein dazu?»
Gustelies’ Kehle war mit einem Mal ganz ausgetrocknet. «Krieg!», krächzte sie. «Kriege und Verbrechen.»
Für einen Augenblick lag eine undurchdringliche Stille über dem Römer. Alle Augen waren auf Gustelies gerichtet. Die Posamentiererin Gundel erhob das Wort. «Sie muss es wissen, sie ist die Schwiegermutter des Richters», rief sie. Und die Seifensieder Lilo presste ihren Säugling an sich und schrie: «Das Böse war in der Stadt, der Teufel ging um. Ich selbst habe ihn gesehen, wurde in letzter Sekunde aus seinen Klauen gerettet. Der Prediger hat recht: Die Erde ist in Frevlerhand. Frankfurt ist in Frevlerhand. Wir stecken alle mittendrin in der Hölle.»
Ein Raunen und Tuscheln, Wispern und Murmeln ging über den Römer. Beinahe jeder wandte sich an seinen Nachbarn und brachte weitere Beispiele für die Taten des Teufels aus seinen Erinnerungen hervor.
«Lepra!», hallte es über den Platz. «Unzucht», «Spielsucht», «Trunksucht», «Hurenhaus», «Feuersbrünste», «Hochwasser» und noch viele weitere. Und für jeden Begriff fanden sich welche, die auf der Stelle handfeste Beispiele lieferten. Die Menge wogte aufgeregt hin und her. Sie keuchte und stöhnte wie ein gewaltiges Tier, wälzte sich ein paar Schritte nach vorn, wand sich nach hinten, zu den Seiten, veränderte unablässig ihre Form, wurde breiter, dann wieder schmaler. Einzelne Gestalten lösten sich, taumelten an den Rand, sanken erschöpft auf das Pflaster des Römerplatzes. Die Sonne schien sich verdunkelt zu haben, und die Luft war mit einem Schlag so stickig geworden, dass die Frauen an ihren Brusttüchern rissen und nach Atem rangen. Die Haube der Schultheißin war verrutscht, die Löckchen klebten feucht an ihrer Stirn. Kinder schrien auf und heulten, die räudigen Katzen und Hunde suchten das Weite. Es war mit einem Male so heiß auf dem Platz, so eng, so drückend, dass ein jeder glaubte, auf der Stelle ersticken zu müssen.
Auch Gustelies riss an ihrem Mieder, konnte dabei aber ihren Blick nicht von dem Prediger lassen. Wahrlich, er war ein schöner Mann. Er hatte die Glut im Leib, und diese Glut übertrug er auf die Frauen und Weiber, die ihm lauschten. Selbst Gustelies spürte es heiß über ihren Rücken laufen. Sie hob einen Finger. Der Prediger nickte ihr zu. «Ja? Habt Ihr eine Frage? Fällt Euch noch etwas zur Hölle ein?»
Gustelies musste sich erst die Kehle frei räuspern, ehe sie antworten konnte. «Was ist mit dem Alter? Das Altern, gehört das auch zur Hölle?»
Einige Frauen drehten sich zu ihr um und betrachteten sie neugierig. Mutter Dollhaus stieß Jutta in die Seite und deutete mit dem Finger auf Gustelies. Das Keuchen und Stöhnen, das Ächzen und Seufzen verstummte.
«Was meint Ihr damit?», wollte der Prediger wissen.
«Altern heißt leiden», erklärte Gustelies. «Mir scheint manchmal, dass Gott uns damit zur Demut zwingen will, bevor wir die Erde verlassen. Ist das so? Oder hat hier der Teufel seine Hand im Spiel?»
Sie kannte die Antwort. Seit Monaten dachte sie über nichts anderes nach. Und sie war zu einem Schluss gekommen: Altern, das ist die Strafe Gottes für die Sünden der Jugend. Der Herr wollte, dass die Menschen ihren Rücken beugten und die Augen niederschlugen, bevor sie vor seinen Thron traten. Keiner würde das freiwillig tun, also hatte der Herr die Gicht, das Knochenreißen, die Blindheit, Taubheit, das weiße Haar, die morschen, schmerzenden Glieder und die schwindende Kraft auf die Erde geschickt, um die Menschen demütig zu machen. Insofern hatte der Prediger recht, dachte sie nun. Insofern, als das Alter die Hölle war. Aber sie war gespannt auf seine Antwort.
Der Prediger ließ sich Zeit. Er drängte sich wieder durch die Menge bis zu ihr, blieb vor ihr stehen, streckte seine Hand aus und strich
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