Die Verbrechen von Frankfurt. Frevlerhand
Tischplatte und schluchzte, als wolle das ganze Leid ihres Lebens mit einem Schlag aus ihr heraus.
Sie hörte nicht, dass Henn aufstand und seinen Arm um sie legte, sie spürte nur seine Hand, die über ihren Rücken strich. Ganz sanft, so wie früher, als sie noch ein Kind gewesen war, die Mutter sie gestreichelt hatte.
«Weine nicht», sagte Henn leise. «Um Vergangenes zu weinen, das lohnt sich nicht.»
Gustelies zog die Nase hoch, hob den Kopf. «Was meinst du?»
«Du weinst nicht nur um Adele, deine Tränen vergießt du wohl auch um uns.»
Und in diesem Augenblick brach etwas in Gustelies auf. Etwas, das schon lange da war, das schon seit Monaten, seit Jahren in ihr schlummerte. Sie schmiegte sich in Henns Arm. «Es ist der Glaube, nicht wahr? Der Glaube, der Berge versetzt.»
Henn zog Gustelies an sich, strich behutsam über ihr Haar, über ihre Wangen. «Ja. Es ist der Glaube. Der Glaube an sich. Der Glaube an Gott, an die Liebe, an das Gute im Menschen, ganz egal. Wer den Glauben verliert, der ist so gut wie tot.» Er lachte bitter auf. «Und das sage ich, der gerade seine Tochter verloren hat, die für ihren Glauben an die Liebe den Tod fand. Es ist nicht gerecht, nein, das ist es nicht.»
Gustelies nickte. «Ich habe das nicht gewusst», sagte sie traurig. «Ich habe es einfach nicht gewusst. Ich wollte ein guter Mensch sein, eine gehorsame Tochter, eine ordentliche Ehefrau, eine fürsorgliche Mutter. Ich wollte gern so sein, wie die anderen mich haben wollten. Und was ist daraus geworden?»
Henn zog sie hoch vom Stuhl, schlang seine Arme um Gustelies, hielt sie ganz fest, wie es schon so lange kein Mann mehr getan hatte. Und Gustelies schmiegte sich an ihn, roch seinen Geruch nach Mann und Schweiß und Goldstaub, und sie fühlte sich so geborgen wie seit dem Tode ihres Mannes nicht mehr. Gefühle stiegen in ihr auf, die sie längst schon vergessen zu haben glaubte. Und Hoffnung keimte in ihr. Und sie begriff, dass es das war, was ihr so sehr gefehlt hatte. Hoffnung. Nicht das Alter hatte sie gedrückt, nicht die Falten, nicht der Verlust der Gebärfähigkeit. Sie hatte nur gedacht, dass es das wäre, weil es bei den anderen Frauen so war. Jetzt aber, an der Brust des Mannes, den sie einst geliebt hatte, wusste sie, dass es die fehlende Hoffnung und der fehlende Glaube gewesen waren.
Glaube, Liebe und Hoffnung. Sie hatte es doch gewusst, hatte tausendmal schon gehört, dass so die drei göttlichen Tugenden hießen. Glaube, Liebe, Hoffnung. Aber sie hatte es nicht verstanden. Bis heute nicht. Und sie hatte auch nicht begriffen, wie eng diese drei Tugenden miteinander verknüpft waren. Da, wo es keinen Glauben gab, da gab es auch keine Hoffnung. Und wo die Hoffnung fehlte, da war kein Platz für die Liebe.
Sie sah Henn Goldschlag ins Gesicht. Ein zartes Lächeln bog ihre Mundwinkel nach oben, doch noch immer rannen ihr die Tränen über die Wangen. «Glaube, Liebe, Hoffnung, am größten jedoch ist die Liebe», flüsterte sie. «So steht es in der Schrift, so endet das Hohelied der Liebe.» Sie seufzte. «Henn, ich glaube, ich habe alles falsch gemacht in meinem Leben.»
«Nein!» Henn schüttelte den Kopf, rüttelte ein wenig an Gustelies’ Schulter. «Du magst einiges falsch gemacht haben. So wie jeder Mensch auf Erden, aber du hast auch viele Dinge richtig gemacht. Deine Tochter ist gut gelungen. Du bist beliebt, du wirst gebraucht. Vielleicht hast du das nur nicht gemerkt.»
«Ja. So ist es wohl», bestätigte Gustelies. «Ich habe es nicht gemerkt. Meine Augen waren blind, meine Ohren taub. Der Glaube ist das Wichtigste, wie konnte ich das nur vergessen? Der Glaube gebiert die Hoffnung. In jeder Lebenslage.»
Henn lachte leise. «Und nun?», fragte er, und seine Stimme klang gar nicht mehr rau und kratzig, sondern warm und weich. «Woran wirst du jetzt glauben? Wohin soll dich deine Hoffnung denn führen?»
Gustelies machte sich von Henn los, sah ihm ins Gesicht, in die Augen, die sie anschauten, dass es sich wie ein Streicheln auf der Haut anfühlte. «Ist es denn noch nicht zu spät?», fragte sie leise.
«Das weiß ich nicht», erwiderte Henn. «Aber wenn du daran glaubst und die Hoffnung nicht aufgibst, dann kann es gar nicht zu spät sein.»
Ein Lächeln stahl sich auf Gustelies’ Lippen. Ein schmales, schüchternes Lächeln, aber eines, das schon von Glaube und Hoffnung getragen war. Sie hob die Hand und strich Henn zärtlich über die Wange. «Es ist nicht zu spät für die
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