Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
weinte. Sie weinte um die arme Seifensiederin, die tote Frau vom Main, den gefallenen Sohn, die verlorene Schwiegertochter, um ihren Onkel und auch ein wenig um sich selbst. Als sie sich beruhigt hatte, zog sie ihr Kleid aus und ließ sich von der Magd eine Schüssel mit parfümiertem Wasser kommen. Düfte, hatte ihre Mutter Gustelies ihr immer wieder gesagt, heben die Stimmung. Jetzt war ihr nach einem frischen, frühlingshaften Duft, und sie nahm das Fläschchen mit dem Orangenwasser zur Hand.
Sie wusch sich, betrachtete dabei misstrauisch ihren Leib. Seitdem sie die Henkersfrau halbnackt gesehen hatte, hatte Hella es nicht gewagt, ihren Bauch und die Schenkel zu begutachten. Jetzt tat sie es, der Tag war ohnehin schlimm genug. Sie entdeckte einen haarfeinen weißen Streifen, der sich über ihre Hüfte bis zum Oberschenkel hinunterzog – und erschrak. Ihre Wehmut war mit einem Schlag verschwunden. Hastig zog sich Hella wieder an und verließ kurz darauf das Haus.
«Komm, schnell weg hier.» Gustelies brachte vor Aufregung kaum einen Ton heraus. Sie drängte Jutta durch den kaputten Zaun, zog sie unbarmherzig bis zum Abfallgraben, schaffte den Sprung dieses Mal ohne Anlauf, als trüge das Entsetzen sie auf Flügeln. Auch Jutta, die ihrer Freundin erschrocken gefolgt war, stand schließlich unbeschadet auf der Straße. Doch Gustelies zog sie weiter und hielt erst inne, als sie die Mainbrücke erreicht hatten.
«Ich kann nicht mehr», jammerte Jutta. «Schließlich laufe ich links nur auf Strümpfen. Bleib stehen und erzähl mir endlich, was du gesehen hast.»
«Nicht so laut.» Gustelies sah sich hastig nach allen Seiten um. Ihre Stimme klang so angespannt, dass Jutta nicht widersprach. Ein Tagelöhner lief mit einer Axt über der Schulter an ihnen vorüber, ein Stückchen entfernt klapperte ein Fuhrwerk über die Pflastersteine, dann war die Straße leer, kein Mensch weit und breit zu sehen.
Gustelies hatte die Augen noch immer vor Entsetzen weit aufgerissen. «Webstühle. Ich habe Webstühle gesehen. Und daran haben Kinder gearbeitet. Mein Gott!» Sie schluckte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. «Es waren kleine Kinder, Jutta. Winzige Kinder. Die kleinsten vielleicht vier Jahre alt. Und alle hatten sie geschorene Köpfe. Eines hat mich mit großen, traurigen Augen angeschaut. Direkt ins Herz hat’s mir geschaut, dass mir ganz anders wurde. Zerlumpt waren die Kleinen. Eines hatte ein Leibchen an, welches so zerrissen war, dass die nackte Schulter herausschaute. Und mager waren sie, die Mädchen und Kerlchen. So mager, dass die Augen groß wie Goldgulden in den verhärmten Gesichtchen lagen. Und keins von ihnen hat auch nur ein Wort gesagt. Ihre blassen Gesichtchen, ach, Jutta, die waren so traurig, so unendlich traurig.» Gustelies schniefte.
«Was? Was sagst du da?» Jutta Hinterer war ganz blass geworden.
Gustelies holte tief Luft. «Ja, Jutta. Jedes Wort entspricht der Wahrheit. Im Findelhaus arbeiten kleine, halbverhungerte Kinder in fast völliger Dunkelheit und mit zerrissenen Kleidern an riesigen Webstühlen. Und davor, nahe an einem Kohlebecken, saß die Frau von Vater Raphael, und sie hielt eine Peitsche in der Hand.»
Bruder Göck fühlte sich in den Sachen des Richters nicht nur eingesperrt, sondern regelrecht gefesselt. Er wusste kaum, wie er ein Bein vor das andere setzen sollte, ohne dass irgendwo etwas kniff oder rieb.
«Ich verstehe die Menschen nicht», murmelte er vor sich hin. «Warum gehen sie nicht alle ins Kloster?» Er blieb stehen und schnappte nach Luft. «Keine Freudenhäuser, keine Kriege, keine Ehestreitigkeiten, keine Habsucht. Dafür Ordnung und Ruhe und lauter glückliche, dicke Menschen mit vollen Weinbechern.» Er schüttelte den Kopf über den Unverstand der Geschöpfe Gottes und ging die letzten Meter zum Frauenhaus. Ihm war mulmig zumute, denn Blettner hatte ihn tatsächlich beim Henkershaus allein gelassen. Der saß jetzt sicher bei einem guten Tropfen in der Küche der Henkerin und ließ es sich wohl ergehen, während auf ihn, Bruder Göck, Gottes schlimmste Prüfung wartete.
«Na, Süßer, willst du dich verwöhnen lassen?»
Vor der Tür des Frauenhauses stand ein Weib mit rotbemalten Lippen. Bruder Göck erschrak und tastete nach dem Kreuz, welches er in der Rocktasche trug.
«Ja, ähm, deshalb bin ich gekommen», stammelte er und sah dabei auf den Boden.
«Bist wohl ein Schüchterner, was?» Die Frau kam näher und kitzelte Bruder Göck unter
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