Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
Gustelies rümpfte die Nase und spähte auf die verfaulten Kohlstrünke, die abgenagten Knochen und die Fischgräten, die sich in einer braunen, stinkenden Schlammmasse im Abfallgraben tummelten. «Was denkst du, Jutta, was das Braune da ist?», fragte sie mit angeekelt verzogenen Mundwinkeln.
Jutta zuckte mit den Achseln. «Ich glaube, das will ich nicht wissen. Schaffst du es, über den Graben zu springen?»
Gustelies wiegte die Hand hin und her. «Mit viel Anlauf und Gottes Hilfe und dem Beistand aller Engel und dem Zuspruch der heiligen Hildegard könnte es vielleicht gelingen.»
«Dann versuch’s.»
Gustelies seufzte, ging ein paar Schritte zurück, raffte mit beiden Händen ihre Röcke und rannte los. Ein Schrei, sie sprang – und schon hing sie am anderen Ende des Grabens, die Schuhspitze einen Fingerbreit über der braunen Masse. Auf Knien und Ellbogen robbte sie den letzten Meter und stand schließlich strahlend auf der anderen Grabenseite. «Jetzt du!»
Jutta sah sich um. «Meinst du nicht, es reicht, wenn nur eine von uns …»
«Schlag dir das aus dem Kopf, meine Liebe. Du springst jetzt. Ich möchte schließlich auch was zu lachen haben.» Gustelies’ Stimme duldete keinen Widerspruch.
Jutta seufzte, raffte ebenfalls die Röcke, nahm Anlauf, sprang ab – und schon klatschte ihr linker Schuh in die Brühe, bevor sie mit dem Gesicht voran auf der anderen Grabenseite landete.
Gustelies kicherte, reichte dann aber ihrer Freundin die Hand und zog sie hoch. «Deinen Schuh kannst du wohl vergessen», sagte sie und sah zu, wie er im Schlamm versank.
«Rotgefärbtes Kalbsleder», jammerte Jutta. «Noch so gut wie neu.»
Gustelies hatte unterdessen ihre Strümpfe ausgezogen. «Da, nimm die. Zieh sie beide über den unbeschuhten Fuß. Der Boden ist noch kalt. Ich will nicht, dass du dich erkältest.»
«Und du?»
Gustelies kicherte wieder. «Ich habe schließlich noch Schuhe. Und nun weiter.»
Die beiden Frauen schlichen im rechten Winkel zur Straße am Zaun entlang. Die Latten waren aber so dicht genagelt, dass es beinahe unmöglich war, einen Blick auf das Grundstück dahinter zu werfen.
«Lass uns bis zur Rückseite gehen. Ich wette, dort ist die Absperrung nicht so dicht. Die Gebäude des Findelhauses grenzen direkt an das Wäldchen.»
Wie zwei Diebinnen schlichen Jutta und Gustelies am Zaun entlang, bis sie die Rückseite erreicht hatten.
«Hast du gewusst, dass es hinter dem Wohnhaus noch ein Gebäude gibt?» Jutta sah durch die Zaunlatten, die tatsächlich an der Rückseite viel weniger dicht standen. Zum Teil waren die Nägel ein wenig lose, sodass es Jutta ein Leichtes war, zwei Latten zu entfernen. «Hier müssten wir durchpassen. Dann können wir gleich sehen, was in diesem Gebäude drin ist. Es sieht aus wie ein Wirtschaftsgebäude oder ein Gerätelager.»
Als die Frauen auf der anderen Seite des Zaunes standen, legte Gustelies einen Finger auf die Lippen. «Pscht!» Und nach einer Weile: «Hast du das auch gehört?»
Jutta nickte. «Was ist das?»
«Ich habe keine Ahnung, was dieses Knarren und Rumpeln bedeuten soll. Aber wie ein Kinderspiel klingt es nicht. Komm, lass uns näher rangehen.»
«Da, ein Fenster ist offen. Der Holzladen hängt kaputt herunter. Und von dort kommt auch der Krach.»
Die beiden Frauen gingen näher, standen unter dem Fenster und lauschten auf das Knarren und Knirschen, das Rumpeln und Surren. Einmal hörten sie eine Frauenstimme im Befehlston etwas rufen.
«Wer von uns ist leichter?», wollte Gustelies wissen.
Jutta zog sofort den Bauch ein. «Ich glaube, ich bin das. Zumindest passe ich wieder in das Kleid vom letzten Jahr.»
Gustelies verdrehte die Augen. «Darum geht es jetzt nicht. Eine muss der anderen helfen, in das Fenster zu schauen.»
«Eine Spitzbubenleiter?»
«Genau.»
Jutta seufzte und verschränkte ihre Finger bei nach oben zeigenden Handflächen. «Aber mach schnell, lange kann ich dich bestimmt nicht halten.»
Gustelies stieg mit einem Fuß auf Juttas Hände, stützte sich mit einer Hand auf deren Kopf ab und griff mit der anderen nach dem Fensterbrett. Dann stöhnte sie leise und zog sich hoch.
«Was siehst du?», wollte Jutta von unten wissen. «Mach schnell, ich kann dich nicht länger halten.»
Schon ließ sie die Hände sinken, spürte Gustelies’ Hand schwer auf ihrem Kopf, und endlich sprang die Freundin herunter. Mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen starrte sie Jutta an.
«Was ist? Was hast du gesehen?»
«Etwas
Weitere Kostenlose Bücher