Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
Jutta wissen.
«Wahrscheinlich steckt ihn der Henker einen ganzen Tag lang in ein Fass und stellt ihn auf dem Römer aus. Und die Leute dürfen ihn mit faulem Zeug bewerfen und ihn anspucken. Er hat’s verdient.» Ihre Stimme klang gleichgültig. «Nur dass wir wieder einmal aus einer Stadt ausgewiesen werden, das stört mich. Endlich habe ich eine Freundin gefunden», sie deutete auf die andere Frau, «schon heißt es weiterziehen.»
«Ist Euch ein Mann aufgefallen, der sich manchmal hier herumtreibt?»
Die Frauen sahen einander an, dann antwortete die eine: «Wir haben nicht darauf geachtet. Wenn Ihr ein Leben führen müsstet, wie wir es tun, dann schaut Ihr nicht nach Männern.»
«Oh», erwiderte Jutta. «Ich weiß genau, wovon Ihr da sprecht. Niemand macht so viel Ärger, niemand bereitet so viel Kummer wie ein Mann.»
«Ihr sagt es.»
«Aufgefallen ist Euch keiner?»
Die beiden Frauen überlegten. «Vielleicht war da einer, der häufig hier herumlungerte», erwiderte die Frau des Weinpanschers. «Aber ich kann beim besten Willen nicht sagen, wer das war.»
«Und wie sah er aus?»
Die Frau zuckte mit den Achseln. «Ich weiß es nicht mehr. Gewöhnlich. Normal. Unauffällig. Ich dachte, er will sein Weib besuchen. Eine heimliche Hübschlerin vielleicht. Aber ich habe mich nicht um ihn gekümmert.»
Juttas Herz schlug ein wenig rascher. «Ist er jetzt da? Seht Euch um! Könnt Ihr ihn irgendwo entdecken?»
«Nein.»
Enttäuscht wünschte Jutta den beiden Frauen und ihren Kindern viel Glück, dann zog sie Minerva weiter.
Sie gingen eine ganze Strecke schweigend. Erst als die Friedberger Warte rechts von ihnen, der Atzelberg vor ihnen und der Riederwald links von ihnen lagen, brach Jutta das Schweigen. «Erzähl mir von dir, Minerva. Von dir und deinem Vater.»
Die junge Frau zuckte mit den Achseln und schob trotzig ihre Unterlippe nach vorn. «Da gibt es nicht viel zu berichten. Geboren wurde ich in Bologna. Mein Vater war Professor an der dortigen Universität. Mein älterer Bruder und ich wuchsen in einem wunderschönen Haus auf, in dessen Hof eine Palme stand. Kinderfrauen zogen uns auf. Meine Mutter, schön und viel zu jung, um Mutter zu sein, hatte einen Liebhaber, von dem wir Kinder nichts wussten. Als sie von ihm schwanger geworden war, schickte mein Vater sie weg. Der Bischof verhängte über ihr den Kirchenbann, und wenig später verlor unser Vater seine Anstellung an der Universität. Es hieß, ein Lehrer, der zugleich Ehemann einer Treulosen war, tauge nicht zum Unterrichten. Ich war inzwischen ein junges Mädchen. Gut entwickelt, aber im Geiste so unschuldig wie ein Neugeborenes. Natürlich sah ich die Blicke der Studenten, hörte ihre lockenden Worte, doch ich verstand sie nicht.» Sie seufzte.
«Mein Vater packte unsere Sachen, und wir zogen über die Alpen ins Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vater sagte, dort herrsche ein neuer Glaube, der nicht so streng sei wie der in Bologna. Unterwegs wurde mein Bruder von deutschen Häschern gefangen und ins Heer verpflichtet. Er zog gegen die Türken in den Krieg. Wir warteten in Koblenz auf seine Rückkehr. Und zwei Jahre später war es so weit: Angelus kehrte zurück, doch er war krank an Leib und Seele. Die Franzosenseuche war in ihm ausgebrochen. Mein Vater, der in Angelus seinen Nachfolger gesehen hatte, den Sohn, der seine Forschungen weiterführen würde, musste zusehen, wie mein Bruder elend zugrunde ging.» Die Erinnerung schmerzte sie sichtlich.
«Am Tag seines Todes starb auch ein Teil meines Vaters. Von nun an kümmerte er sich nicht mehr um sich, sondern stürzte sich wie besessen in seine Forschungen. Er arbeitete mit seltenen Kräutern und geheimnisvollen Pflanzen, die er sich von weit her kommen ließ. Dann erkrankte der Sohn des Bürgermeisters an der Franzosenkrankheit, und Vater erhielt den Auftrag, ihn zu heilen. Wenn das gelänge, so sollte ich den jungen Mann heiraten und mein Vater erhielte den Bürgerbrief der Stadt. Tag und Nacht stand ich mit meinem Vater im Laboratorium, reichte ihm Instrumente, heizte die Brenner, spülte Flaschen und Pipetten. Der Zustand des Bürgermeistersohnes verschlechterte sich dramatisch. Da hörte sein Vater, wie eine Frau, die als Weise galt, ihm sagte, der Junge würde genesen, wenn er mit einer Jungfrau schliefe. Der Bürgermeister ordnete an, dass ich diese Jungfrau sein sollte. Mein Vater versuchte, das zu verhindern, denn er wusste, dass der Junge dadurch nicht zu retten war.
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