Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
Und obendrein würde er mich an die Seuche verlieren.»
«Und weiter?», wollte Jutta wissen.
Minerva schluckte. «Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen», flüsterte sie.
«Mir ist nichts fremd, glaub mir», erklärte Jutta. «Alles, was du mir jetzt erzählen könntest, hätte auch ich für mein Kind getan, wenn mir Gott eines geschenkt hätte.»
Minerva nickte. Ihr Mund lächelte, doch in ihren Augen standen Tränen.
«Nach dem Tod des Jungen mussten wir Koblenz verlassen. Mein Vater wusste, dass er an keiner Universität eine neue Anstellung bekommen würde. Auch als Arzt konnte er nicht mehr praktizieren, denn alle seine Urkunden waren auf den Namen ausgestellt, auf dessen Kopf vom Koblenzer Patrizier und Bürgermeister eine so hohe Summe ausgestellt war.»
«Ihr seid nach Frankfurt gekommen?»
Minerva nickte. «Die Stadt ist groß, doch eine Universität fehlt hier. Die Gefahr, hier erkannt zu werden, war für meinen Vater gering. Also ließ er sich in Seckbach nieder und forschte.»
«Und du? Warum lebst du nicht bei deinem Vater?»
Minerva schluckte. «Was meinst du, wovon mein Vater lebt? Ich muss ihn ernähren. Ich muss arbeiten, damit er forschen kann. In Seckbach wäre ich nicht zu Geld gekommen, das Dorf ist zu klein. Und innerhalb der Frankfurter Stadtmauern kann ich auch nicht leben. Also blieb nur die Vorstadt.»
«Und der Gehilfe, denn du den Stummen nennst, er hält den Kontakt zwischen deinem Vater und dir?», wollte Jutta weiter wissen.
«So ist es. Nur zu Weihnachten und zu Ostern gehe ich nach Seckbach. Aber selbst an diesen Tagen hält sich mein Vater die meiste Zeit in seinem Laboratorium auf. Manchmal denke ich, er hält auch mich für tot. Beide Kinder Opfer der Seuche. Vielleicht ist es das, was ihn so unermüdlich sein lässt.»
Minerva deutete die gepflasterte Gasse hinab. «Dort! Siehst du die Hütte, die links hinter dem Seckbacher Rathaus steht? Direkt neben dem Galgen?»
«Ja.»
«Dort lebt er, mein Vater. Und er ist zu Hause, denn aus dem Kamin steigt Rauch auf.»
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Kapitel 36
H ätte Richter Heinz Blettner sein Haus nur wenige Augenblicke früher verlassen, wäre er Jutta Hinterer vor die Füße gelaufen. Doch er fand seine Schuhe nicht und musste erst die Magd aus dem Bett rufen.
Jetzt eilte er die Gassen hinab, am Römer vorbei und verschwand am unteren Ende der Fahrgasse, dort, wo die reichen Patrizier wohnten.
Er klopfte an der Hintertür des Schultheiß-Hauses. Eine Magd, noch angetan mit dem Nachtkleid, das Haar vom Schlaf zu einem Nest gestrickt, öffnete ihm und gähnte.
«Ihr seid es, Richter? Was macht Ihr zu dieser gottverlassenen Stunde bei uns?»
Der Richter schob die schlafwarme Frau zur Seite. «Weck deinen Herrn. Sofort. Und sorge dafür, dass die gnädige Frau dabei nicht wach wird. Er soll runterkommen, es geht um Leben und Tod.»
Die Magd riss neugierig die Augen auf. «Was ist geschehen, Richter?»
Blettner wedelte verärgert mit der Hand. «Jetzt ist nicht die Zeit für einen Schwatz. Hol den Herrn, aber hastig, Weib.» Sein Ton war so ungehalten, dass die Magd sofort verängstigt die breite, geschwungene Treppe hinauflief.
Die ganze Nacht war Heinz wach gewesen und hatte, so er vor Angst um Hella überhaupt denken konnte, nachgedacht. Er war den ganzen Tag über schon so in Gedanken um die Morde versunken gewesen, dass er selbst dem wirr sprechenden Wärter des Verlieses, der am Nachmittag bei ihm gewesen war, nicht hatte zuhören können, sondern ihn nur mit einem «Ja, ja, ist gut» weggeschickt hatte.
Der Morgen graute schon, als ihm einfiel, dass Bruder Göck von einem Beichtenden nur Verse aus dem Buch Hiob gehört hatte. Und er hatte den Mönch geweckt, der nach seiner erfolglosen Suche am Küchentisch des Richters über einem Becher Wein eingeschlafen war.
«Hiob?», hatte der Mönch schlaftrunken gemurmelt. «Ja, richtig, der Verwirrte, der nur Verse zitierte. Das hatte ich Euch doch erzählt.»
«Habt Ihr mit dem Pater darüber gesprochen?», hatte Blettner gedrängt. «Kann es für die Mordfälle und für Hellas Verschwinden wichtig sein?»
Mühsam hatte Göck den Schlaf abgeschüttelt und nachgedacht. «Also», sagte er schließlich zögernd. «Bevor der Pater mit den Kopfschwarten aufgegriffen wurde, hatte ich eine seltsame Unterredung mit ihm, und er fing auch immer von Hiob an. Es war einmal kurz nach der Beichte.»
«Weiter», forderte Heinz Blettner ihn auf.
«Wenn ich jetzt
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