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Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich

Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich

Titel: Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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zum Liebfrauenberg tragen. Es soll auf Pater Naus Schoß sitzen. Ich möchte meinen Heinz sehen, wie er das Kind badet, wie er sich bläht vor Stolz auf den wohlgeratenen Sprössling. Und meine Mutter will ich sehen, die das Kind an ihren weichen Busen presst, und dazu Jutta, die darüber lacht, aber ihre Rührung kaum verbergen kann. Sogar nach Bruder Göck sehne ich mich, nach seinem angewiderten Gesicht, wenn das Kleine den Brei auf seine Kutte spuckt. Meine Familie möchte ich zurück, und mein Kind soll in dieser, meiner Familie aufwachsen. Nichts sonst wünsche ich mir. Nur das.
    Und obwohl Hella «Nur das» dachte, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, wie wichtig ihr die Familie war. Diese Familie, von der ein Teil nicht einmal mit ihr verwandt war und die sie doch als gänzlich zu sich gehörend empfand.
    Aber hier saß sie nun als Magd. Und diese Rolle musste sie bis zum Ende spielen.
    «Was ich mir wünsche?», fragte sie.
    «Ja.»
    «Ich wünsche mir nur das, was sich wohl alle Menschen auf dieser Welt wünschen. Einen Platz zum Leben, ein Bett für den Schlaf, ein wenig Brot und Milch für den Tag und die Gewissheit, dass mein Kind in Frieden aufwachsen kann.»
    «Das ist sehr viel. Eure Wünsche sind groß. Riesig sogar.»
    Hella verstand nicht. «Warum sind sie groß? Ich wünsche mir keine Kleider, keinen Schmuck, keine Kutsche, kein großes Haus, keinen Ruhm und keine Ehre. Ich wünsche mir doch nur, was zum Leben nötig ist.»
    «Ja, und das nenne ich viel. Das ist mehr, als die meisten haben. Mehr, als Gott dem Menschen zugesteht.»
    Hella schüttelte den Kopf. «Warum?», fragte sie immer wieder. «Warum hat Gott mich zur Welt kommen lassen, wenn er nicht für mich sorgen will?»
    Der Mann lachte auf. «Ihr wisst wenig vom Leben! Sagt selbst, wie wollt Ihr jemals an ein Bett kommen? Was für ein Leben wartet auf eine wie Euch? Auf eine Hure, selbst wenn sie es nur ein einziges Mal mit einem Manne getrieben hat? Einen Bastard wird sie haben, eine lose Frau wird sie sein. Eine, die niemand anstellt, weil keiner das Kind mit ernähren will. Eine, die keine Arbeit findet und keinen Mann. Als Wanderhure werdet Ihr womöglich gehen müssen. Für ein Stück Brot, einen Schluck Milch Euern Leib hergeben müssen. Ihr werdet verhöhnt und angespien werden. Ein jeder, der Lust dazu hat, kann Euch schlagen, Euch berauben. Ihr seid schutzlos. Bei jedem Wetter werdet Ihr draußen sein. Und Weihnachten ist für Euch, wenn ein mitleidiger Mensch Euch in der Scheune auf faulem Stroh schlafen lässt oder im Stall, wo Ihr Euch an den Leibern von Pferden, Kühen und Schweinen wärmen müsst. Denkt doch nur an die Menschen in der Vorstadt. An ihre grauen Gesichter, an ihre Kinder, die abends gebratene Ratten essen müssen, weil für etwas anderes kein Geld da ist. Die stehen über Euch, denn sie haben wenigstens ein Dach über dem Kopf. Denkt an die Männer, die für den Kaiser in die Schlacht ziehen müssen, die in Erdlöchern schlafen bei Frost und Gewitter, bei Hitze und Schnee. Denkt daran, wie diese Männer nach Hause kommen, erfroren an allen Gliedern und erfroren an der Seele. Niemals mehr können diese Männer lieben. Und sie werden es auch sein, die Euch schlagen und Euch mit der Franzosenkrankheit anstecken. Euer Leben für ein Stück Brot.» Er hielt kurz inne und betrachtete Hella. «Und das Kind. Glück hat es, wenn es das erste Jahr überlebt. Oder sollte man das besser Pech nennen? Es wird niemals satt sein, immer krank. Die Pest lauert in jedem Loch, in jedem Tümpel. Die Pocken, Aussatz, Schwindsucht, Auszehrung. Alt werdet Ihr vor der Zeit und Euch sehnen nach dem Tod.»
    Hella weinte. Sie schluchzte hemmungslos, presste die Hände wieder schützend auf ihren Leib. Sie weinte um sich, um all die Frauen und Kinder, denn sie wusste, dass der Jedermann recht hatte. Ja, es gab Menschen, die für immer ohne Hoffnung leben mussten.
    «Was soll ich denn nur tun?», klagte sie, sich ganz und gar in die gefallene Magd, die sie hier spielte, hineinversetzend.
    «Wollt Ihr etwa Euerm Schicksal entgehen?», fragte der Jedermann, und seine Stimme hatte dabei etwas unangenehm Lauerndes.
    «Wer in meiner Lage würde das nicht wollen?», schluchzte Hella. «Alles würde ich geben, selbst meine Seele, um meinem Kind ein solches Leben zu ersparen.»
    «Ihr wisst, was Ihr da gesagt habt?», fragte der Mann.
    «Was meint Ihr?»
    «Eure Seele würdet Ihr geben, um Euer Kind zu schützen.»
    «Ja! Ja! Und immer wieder ja!»

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