Die Verdammten: Endzeit-Thriller (German Edition)
ihrem Vater und ihrem älteren Bruder eingetroffen. Sie hatten alle unterernährt gewirkt und der Vater schleppte eine Verletzung am Knöchel mit sich herum. Anscheinend war die Mutter des Mädchens während des ersten Wachstumsschubs der Bäume gestorben. Das schien nun schon so viele Monate her zu sein – ein halbes Jahr, meinten die meisten hier.
Maddy lächelte Alice an. Alice legte einen Finger auf ihre Lippen, und Maddy nickte, sagte stumm ›Tut mir leid!‹ und wandte sich von ihr ab.
Als Maddy die Krankenstation erreichte, traf sie ihre Mutter vor dem durch Vorhänge abgetrennten Bereich an. Sie hockte vor einem etwa acht Jahre alten Mädchen. Maddy näherte sich den beiden und ihre Mutter richtete sich auf und schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln. Hinter dem Lächeln konnte Maddy die Dunkelheit in ihren Augen erkennen und Maddy wusste jetzt schon, dass heute ein schlimmer Tag bevorstand.
Seit sie hierhergekommen waren, hatte Carol Tillings Stimmung zwischen euphorischer Erleichterung, ja sogar vereinzelten Hoffnungsschimmern, Wutausbrüchen und ausgiebigen Heulkrämpfen geschwankt. Maddy wusste, wie schwer die letzten sechs Monate für ihre Mum gewesen sein mussten. Sie hatte sich um zwei Kinder gekümmert, während sie gegen Hunger, Krankheit und mörderische Gangs ankämpfte. All das hatte Spuren bei der 52-Jährigen hinterlassen. Davon, dass sie ihren Ehemann schon zu Beginn der Dschungel-Apokalypse verloren hatte, ganz zu schweigen. Er war einem Herzinfarkt erlegen, nur ein paar Tage, nachdem die ersten Bäume auftauchten.
Trotzdem war Carol Tilling in diesen schrecklichen Monaten in der Wildnis des Vorstadtdschungels – ohne ein Zuhause, ohne eine Familie, zu der sie hätten gehen können, und ohne nennenswerte Kenntnisse, was die Beschaffung von Nahrung oder das allgemeine Überleben ohne Heizung und Strom betraf – für ihre Familie stark geblieben. Ihr hatten Maddy und ihre kleine Schwester Lucy es zu verdanken, dass sie gesund und unverletzt waren, auch wenn Maddy weder die Albträume noch die Erinnerungen an die entsetzlichen Dinge abschütteln konnte, die sie gesehen oder getan oder die man ihr angetan hatte.
Aber es schien, als sei durch die relative Sicherheit des Asyls eine wahre Flut der Emotionen in ihr losgebrochen. Nun, da sie die Zeit hatte, sich zu entspannen und über etwas anderes als das nackte Überleben nachzudenken, drangen all die Ängste, all die Nöte und all das Sterben, das sie mit angesehen hatte, an die Oberfläche. Und leider verkraftete sie das nicht ohne Weiteres. Körperlich ging es Carol Tilling gut. Um ihre Psyche machte Maddy sich jedoch große Sorgen.
»Maddy, darf ich dir Grace vorstellen?«
Maddy schenkte dem kleinen Mädchen das warmherzigste Lächeln, das sie zustande brachte. »Hallo, Grace. Freut mich, dich kennenzulernen.«
Grace, ein kleines Mädchen mit traurigem Gesicht, starrte nur weiter auf den Boden, der aus einer Mischung aus Erde, toten Blättern und vereinzelt durchscheinenden Stellen des einst glänzenden PVC-Bodens des Supermarkts bestand.
Grace war gestern mit einer sechsköpfigen Gruppe angekommen, aber keiner von ihnen gehörte zu ihrer Familie. Die anderen hatten sie versteckt in den Ruinen eines Reisebüros gefunden, nicht weit vom Supermarkt entfernt in der früheren East Road, der größten Einkaufsmeile im ehemaligen Vorort Leighburn. Sie war schmutzig und viel zu dünn, aber ansonsten schien es Grace gut zu gehen. Sie hatte bisher kaum gesprochen, daher wusste niemand viel über sie, etwa, wo sie gewohnt hatte oder was ihren Eltern zugestoßen war.
»Hast du schon was gegessen und getrunken?«, fragte Maddy und beugte sich auf Augenhöhe zu Grace hinunter.
Grace nickte kaum merklich.
»Nur ein bisschen Wasser und ein paar Beeren«, sagte Maddys Mum. »Ich hab versucht, sie mit ein bisschen Fisch zu füttern, aber sie wollte nicht.«
Maddy verzog das Gesicht. »Fisch? Zum Frühstück? Igittigitt.«
Das entlockte dem Mädchen zumindest eine winzige Reaktion. Sie hob einen ihrer Mundwinkel und warf Maddy einen flüchtigen Blick zu. Dann trat jedoch sofort wieder ein trauriger Ausdruck auf ihr Gesicht und sie starrte erneut zu Boden.
»Könntest du Grace hier mal ein bisschen rumführen?«, bat Maddys Mum. »Ihr zeigen, wo alles ist und wie alles funktioniert, und allgemein ein Auge auf sie haben?«
Vor Graces linkem Auge baumelte eine schmutzige Haarsträhne und Maddy streckte eine Hand aus und schob sie hinter das Ohr des
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