Die Verfluchte
sondern hart und traurig.
Unter dem Schreibtisch stand eine uralte hölzerne Kiste, die über und über mit verschlungenen keltischen Mustern verziert war. Glynis beugte sich hinunter, nahm die Kiste und hob sie vor sich auf den Tisch. Sie zögerte kurz, doch dann klappte sie den Deckel auf.
Ein nachtblaues Leinentuch kam zum Vorschein.
Behutsam hob Glynis es heraus, stellte die Kiste wieder fort und schlug die Zipfel des Tuches zur Seite.
Es enthielt mehrere Gegenstände: eine kleine Kupferschale auf drei Beinen, einen Beutel aus schwarzer Wolle, drei dicke, cremeweiße Kerzen – und einen Dornenzweig, an dem eine einzelne, blutrote Rose hing.
Glynis nahm zuerst diesen Zweig. „Morganas Magie bewahrt diese Rose seit zweitausend Jahren vor dem Verfall“, erklärte sie der Katze, die es nun aufgegeben hatte, die Tür anzustarren und stattdessen Glynis beobachtete. Zufrieden legte Glynis den Dornenzweig wieder auf das blaue Tuch. Dann griff sie nach dem Beutel, zog ihn auf und entnahm ihm ein kleines Knäuel aus hellgrünem Moos. Sie legte das Moos in die Kupferschale und zupfte es sorgsam zurecht.
Dann legte sie das unfertige Amulett darauf.
„Moos vom Seeufer“, murmelte sie. „Ich habe Jahrhunderte darauf gewartet, Rose zu begegnen. Und jetzt ist es an der Zeit, das Ritual zu beginnen.“ Sie nahm das nachtblaue Tuch, strich es glatt und betrachtete einen Augenblick lang das Muster darauf. Mit silbernem Faden war eine Triskele eingestickt. Glynis breitete das Tuch auf dem Tisch aus und stellte den kupfernen Dreifuß so darauf, dass seine Beine genau auf den Endpunkten der drei Spiralen standen. Die Kerzen platzierte sie dazwischen. Ganz zum Schluss nahm sie den Dornenzweig und legte ihn auf das Amulett.
Dann lehnte sie sich zurück und betrachtete ihr Werk.
„Gut!“, sagte sie zu der Katze. „Jetzt fehlt nur noch eines.“ Ihr Blick wanderte zum Fenster hinaus, wo sich der Himmel bereits abendlich violett färbte. Es war endlich an der Zeit.
Glynis erhob sich und trat an das Fenster. Kurz zögerte sie, weil sie nicht ganz sicher war, ob sie das Richtige tat. Aber dann strafften sich ihre schmalen Schultern. „Alan“, flüsterte sie in die anbrechende Nacht. „Wo bist du?“
Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, als mit quietschenden Rädern der Eurostar auf einem der Gleise des Gare du Nord in Paris hielt. Es vergingen zwei Sekunden, bevor die automatischen Türen sich öffneten und die Reisenden auf die Bahnsteige quollen. Nur aus dem allerletzten Wagen, der ganz am Ende des Bahnsteigs hielt, stieg zunächst niemand aus.
Erst nach fast einer Minute verließ ein einzelner Mann den Waggon. Er war groß, seine Schultern die eines Menschen, der viel Sport trieb. Schwarze Locken wehten ihm in die Stirn. Die Farbe seiner Augen war nicht zu erkennen, denn trotz der späten Stunde trug er eine verspiegelte Sonnenbrille. Obwohl er modern und lässig gekleidet war – gebleichte Jeans, Boots und ein hochgeschlossenes, schwarzes Hemd –, haftete etwas an ihm, das die Menschen ausweichen ließ, als er schweigend durch die Menge schritt. Neugierige und leicht beunruhigte Blicke folgten ihm, und wenn er vorbeigegangen war, steckten die Menschen die Köpfe zusammen und tuschelten nervös.
Der Mann bemerkte jeden einzelnen Blick, jedes gewisperte Wort, aber nichts davon schien ihn zu berühren. Sein Blick war geradeaus gerichtet, die Linie um Mund und Kiefer hart. Wenn man es geschafft hätte, die Augen von seinem düsteren Gesicht abzuwenden, hätte man gesehen, dass er die Fäuste geballt hatte. Aber nur die wenigsten schafften das.
Unter ihnen eine junge Frau in Minirock und Netzstrümpfen mit Namen Emmanuelle. Sie hatte schon den halben Abend bei den Fahrkartenautomaten am Ende des Gleises gestanden und auf eine günstige Gelegenheit gewartet. Jetzt fixierte sie den Mann und zögerte. Einmal schluckte sie schwer, dann gab sie sich einen Ruck. Einsamkeit umhüllte diesen Kerl wie eine düstere Aura. Emmanuelle hatte ein Gespür für so etwas. Das war der Grund, warum ihr Zuhälter sie manchmal sein bestes Pferdchen im Stall nannte. Sie löste sich von dem Fahrkartenautomaten und trat dem Mann in den Weg.
Er schien erstaunt darüber, dass das geschah. Mit einem Ruck blieb er stehen, richtete den Blick auf Emmanuelle. Obwohl er die Brille nicht abnahm, überlief sie ein eisiges Frösteln. Etwas stimmte mit diesem Typen nicht! In seiner Gegenwart wurde ihr schlagartig unbehaglich.
Trotzdem.
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