Die Verfluchten
völlig Recht. Sie waren zwar erstaunlich
leicht in den Palast hineingekommen, aber wenn er ehrlich war, hatte
er keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen sollte. Sie konnten
schlecht jemanden nach dem Weg zum Harem oder den Sklavenquartieren fragen, und sie konnten auch nicht ernsthaft darauf hoffen,
einfach danach suchen zu können, ohne dass jemand sie ansprechen
würde.
Auch diesmal war das Schicksal - auch wenn es im ersten Moment
vielleicht gar nicht so aussah - auf ihrer Seite. Sie erreichten das obere Ende der Treppe, die in einen langen, an der linken Seite von mehreren Türen flankierten Flur führte. Das Licht kam von einer einzelnen Fackel, die an der Wand brannte und eindeutig mehr Ruß und
stickigen Rauch verbreitete als Licht. Durch das dünne Holz drangen
die Geräusche der Männer, die dahinter schliefen. Offensichtlich
hatte sie ihr Weg direkt in die Quartiere der Wachen geführt. Gerade,
als Andrej ernsthaft daran dachte, kehrtzumachen und sein Glück bei
einer der beiden anderen Türen unten zu probieren, wurde die Tür
ganz am Ende des Ganges geöffnet, und eine hoch gewachsene,
dunkle Gestalt trat heraus. Der Mann sah nicht in ihre Richtung, sondern sprach mit jemandem, der noch in dem Zimmer hinter ihm war.
»Also gut, Hauptmann, ich verlasse mich darauf.«
Irgendetwas an dieser Stimme kam Andrej vage bekannt vor, doch
ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. So schnell, wie es gerade noch ging, ohne dass die Bewegung zu verdächtig gewirkt hätte,
trat er an die erste Tür heran, drückte die Klinke herunter und
schlüpfte hindurch. Abu Dun folgte ihm auf dem Fuß, und sie konnten hören, wie der Mann am Ende des Korridors die Tür schloss und
seine Schritte rasch näher kamen.
Während Andrej sich beeilte, die Tür ebenfalls zuzuschieben, wurde hinter ihnen ein unruhiges Murren laut. Hastig warf er einen Blick
über die Schulter zurück und sah, dass das Zimmer nicht leer war.
Auf einem der insgesamt vier Betten lag eine lang ausgestreckte Gestalt, die sich in diesem Moment schlaftrunken aufrichtete, dann aber
mit einem halblauten Seufzen wieder zurücksank, als Abu Dun an
das Bett herantrat und sich über sie beugte.
Die Schritte draußen näherten sich der Tür, entfernten sich dann
wieder und verklangen nur einen Moment später auf der Treppe.
Andrej atmete erleichtert auf, drehte sich zu Abu Dun um und runzelte dann die Stirn, als er den Gesichtsausdruck des Nubiers bemerkte. Abu Duns sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen.
»Was?«, fragte Andrej knapp.
»Aber… aber hast du ihn denn nicht erkannt?«, murmelte Abu Dun.
»Erkannt? Wen?«, erwiderte Andrej. »Ich habe niemanden…«
»Das war Ali Jhin!«, unterbrach ihn Abu Dun.
Andrej starrte ihn an. »Ali Jhin?«, wiederholte er ungläubig. Er versuchte zu lachen. »Du bist verrückt. Er ist tot.«
»Er war es!«, beharrte Abu Dun. »Ich bin ganz sicher.«
Andrej setzte abermals dazu an, zu widersprechen, sagte aber dann
nichts, sondern versuchte sich das Bild, das sich ihm gerade geboten
hatte, mit aller Macht noch einmal in Erinnerung zu rufen. Er hatte
das Gesicht des Mannes nicht gesehen, er war zu weit entfernt gewesen, es war zu dunkel, und seine Gedanken hatten sich auch mit anderen Dingen beschäftigt, doch er wusste zugleich, dass Abu Dun
mindestens genauso scharfe Augen hatte wie er selbst, wenn nicht
sogar schärfere, und der Schrecken in Abu Duns Stimme und vor
allem in seinem Gesicht sprachen eine eigene, noch deutlichere
Sprache.
»Bist du wirklich sicher?«, vergewisserte er sich überflüssigerweise.
»Wenn ich mir in meinem Leben jemals einer Sache sicher gewesen bin, dann dieser«, grollte Abu Dun. »Er war es!«
Andrej vergeudete eine weitere wertvolle Sekunde damit, den Nubier zweifelnd anzusehen, dann aber drehte er sich wortlos wieder
zur Tür, öffnete sie leise und lauschte auf den Gang hinaus. Nichts
war zu hören. Die Schritte des Fremden waren längst verklungen.
Ohne noch weitere Zeit zu verschwenden, huschte er hinaus und lief
die Treppe, die sie gerade erst heraufgekommen waren, schnell und
beinahe lautlos wieder hinab. Die Wachstube unten war noch immer
verlassen, aber die Tür, die Abu Dun hinter sich geschlossen hatte,
stand nun wieder auf. Andrej huschte hin und wurde für diese Entscheidung belohnt. Nicht weit vor ihnen überquerte eine schlanke,
schattenhafte Gestalt den Hof und steuerte die breite Marmortreppe
an, die zum eigentlichen Palast hinaufführte.
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