Die Verfluchten
machte mit der freien Hand eine weit ausholende, deutende Geste tiefer in
den Gang hinein. »Aber später haben sie angefangen, alle ihre großen Könige und Herrscher in diesem Tal beizusetzen. Es ist ein heiliger Ort - und einer, den die Grabräuber nicht so schnell gefunden
haben.« Sie hob die Schultern. Die Fackel in ihrer Hand machte die
Bewegung mit; zuckende rote und gelbe Lichtreflexe huschten über
die Wände und schienen die Mensch- und Tierfiguren zu unheimlichem, lautlosem Leben zu erwecken.
»Grabräuber?«, wiederholte Abu Dun. Er klang nicht so, als schenke er dieser Behauptung sehr viel Glauben. Grinsend fügte er hinzu:
»Wer stiehlt denn schon ein Grab?«
»Nicht eine der großen Pyramiden enthält heute noch mehr als eine
leere Schatzkammer und allenfalls einen Sarkophag, und die meisten
nicht einmal mehr das.« Meruhe lächelte knapp. »Große Reichtümer
haben schon immer große Gier geweckt, Abu Dun. Und eine Pyramide, die so hoch ist wie hundert Männer, lässt sich nun einmal nicht
gut verstecken. Ein Stollen, der in den Fels hineingemeißelt wurde,
schon eher.«
»Vor allem, wenn er so gut verborgen ist wie dieser hier«, sagte
Andrej. Er spielte damit auf die unheimliche Weise an, auf die sie
dieses Grab betreten hatten, aber Meruhe überging seine Worte.
»Kommt«, sagte sie. »Ich zeige euch das Grab.«
Andrej legte fragend den Kopf auf die Seite. »Bist du sicher, dass
das der richtige Moment dafür ist?«
»Interessiert es dich nicht?«, gab Meruhe zurück. Sie klang enttäuscht. »Ich kenne Männer, die hätten ihr Leben gegeben, um einen
einzigen Blick auf diesen Ort werfen zu dürfen.«
»Nein«, sagte Andrej und verbesserte sich hastig. »Ich meine: doch.
Sicher interessiert es mich. Aber wir haben nicht mehr sehr viel Zeit,
bis die Sonne aufgeht.«
»Ich weiß«, antwortete Meruhe. »Doch für das, was ich tun muss,
reicht sie aus.«
»Und was wäre das?«, wollte Abu Dun wissen.
Meruhe ignorierte seine Frage. »Ich möchte, dass ihr versteht, worum es hier überhaupt geht.« Ihre Stimme wurde plötzlich sehr ernst.
»Ich muss vielleicht etwas tun, was ich nicht tun will. Etwas, wofür
du mich hassen könntest, Andrej.«
»Da fallen mir auf Anhieb eine ganze Menge Dinge ein«, sagte Abu
Dun, doch Meruhe ignorierte ihn weiter. Einen Moment lang sah sie
Andrej noch ernst an, dann wandte sie sich abermals um und ging
mit langsamen Schritten los. Diesmal schlossen sich Andrej und Abu
Dun ihr an.
»Diese Gräber sind seit Tausenden von Jahren unberührt«, sagte
sie, während sie den Neigungen des Ganges folgten. Huschende
Lichtreflexe und die gemalten Augen stummer Wächter, die seit
Jahrtausenden über diese Dunkelheit wachten, folgten ihnen. »Sie
sind die letzte Ruhestätte derer, die einst über dieses Land geherrscht
haben. Niemand hat ihre Ruhe bisher gestört, und solange ich es verhindern kann, wird das auch nicht geschehen. Faruk ist nicht hierher
gekommen, um Sklaven zu nehmen, so wenig, wie das das Ziel Ali
Jhins und seiner Räuber war. Das hier ist es, wonach sie gesucht haben, all die Jahre lang.«
»Aber sie haben es nie gefunden«, sagte Abu Dun. »Was ist jetzt
anders geworden?«
»Sie wussten schon lange, dass es diese Gräber gibt. Kein Geheimnis bleibt für immer gewahrt. Dort, wo heute die Häuser meines Volkes stehen, gab es früher eine ganze Stadt, in der Tausende gelebt
haben. Handwerker, Bauern und Bäcker, Steinmetze und Goldschmiede… viele waren nötig, um das hier zu schaffen, und noch
mehr, um es zu bewachen.« Meruhe lachte leise. »Und vielleicht, um
die zu bewachen, die diese Stadt bewacht haben.« Sie schüttelte den
Kopf. »Dieses Geheimnis ist kein Geheimnis, Abu Dun. Es war nie
eines. Aber es gibt andere Mittel und Wege, diese Gräber zu schützen.«
»Dich«, vermutete Andrej.
»Mich - und andere wie mich, ja«, bestätigte Meruhe. »Ich bin die
Letzte.«
»Was ist mit den anderen geschehen?«, wollte Abu Dun wissen.
Meruhe warf ihm einen raschen, sonderbaren Blick über die Schulter hinweg zu. »Nicht das, was du denkst. Die meisten sind irgendwann einfach gegangen. Auch für einen Unsterblichen werden die
Jahre lang, wenn sie sich zu Tausenden und Abertausenden reihen.«
»Aber du bist noch hier«, beharrte Abu Dun. »Wie kann Faruk den
Weg hier herein finden, wenn du ihn ihm nicht zeigst?«
Meruhe antwortete nicht sofort, und obwohl Andrej hinter ihr ging
und ihr Gesicht nicht sehen konnte, spürte er doch den
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