Die Verfluchten
flüsterte er.
»Das muss es nicht«, sagte Andrej. »Wirklich nicht, Abu Dun. Ich
weiß, dass es nicht deine Schuld war.«
Abu Dun wirkte nur noch niedergeschlagener. »Du… du musst
mich hassen«, flüsterte er. »Ich kann das verstehen.«
Vielleicht muss ich etwas tun, wofür du mich hassen musst, wisperte
Meruhes Stimme in seinen Gedanken. Aber diesmal war es nur die
Stimme aus seiner Erinnerung.
»Nein.« Andrej lächelte bitter. »Warum sollte ich das tun, Abu
Dun? Ich weiß, dass es nicht deine Schuld war. Du konntest dich
nicht wehren.« Er schüttelte heftig den Kopf, und plötzlich war er es,
der nicht mehr die Kraft hatte, dem Blick des Freundes standzuhalten. Ganz leise fügte er hinzu. »Ich glaube, niemand kann dieser Frau
widerstehen.«
»Aber du…« Abu Dun brach mitten im Satz ab, blinzelte und sah
ihn verwirrt an. »Wie meinst du das?«
Statt seine Frage zu beantworten, fragte Andrej seinerseits: »Wie
fühlst du dich?«
»Du willst mich quälen«, sagte Abu Dun. »Das kann ich verstehen.«
Andrej schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich meinte diese Frage
ganz ernst. Wie fühlst du dich?« Er hob die Hand, als Abu Dun antworten wollte. »Schwach und müde, habe ich Recht? So erschöpft
wie seit hundert Jahren nicht mehr. Als hätte dir jemand all deine
Kraft gestohlen.«
Einen Moment lang blinzelte Abu Dun verständnislos, dann nahm
der Ausdruck von Verwirrung auf seinem Gesicht noch einmal zu.
»Ja. Aber woher… woher weißt du das?«
»Ich brauche alle Kraft, die ich bekommen kann«, flüsterte Andrej.
Diesmal galten die Worte nicht Abu Dun, und auch der bittere Ton
seiner Stimme hatte nun einen gänzlich anderen Grund. Plötzlich,
von einem Atemzug zum anderen, war er es, der sich schuldig und
niedergeschlagen fühlte und eine Scham empfand, die fast so groß
war wie die, die er auf Abu Duns Gesicht las.
Hatte er tatsächlich so lange gebraucht, um zu begreifen, was sie
ihm hatte sagen wollen?
»Andrej«, murmelte Abu Dun fast flehend, »was bedeutet das?«
»Dass du dir wirklich nichts vorzuwerfen hast«, antwortete Andrej
halblaut. »Wenn es jemanden gibt, der sich schämen sollte, dann
ich.« Er fuhr abermals herum und starrte in die Richtung, in die Meruhe verschwunden war. »Ich war ein Narr.«
Sie hatte ihn nicht hintergangen. Wozu auch immer sie die Kraft
brauchte, die sie ihm und Abu Dun gestohlen hatte, sie hatte sie sich
von den einzigen beiden Menschen geholt, die sie ihr geben konnten,
ohne mit dem Leben dafür zu bezahlen. Sie war keine Mörderin, sie
wollte ganz im Gegenteil Menschenleben retten.
»Ich war ein solcher Narr!«, flüsterte Andrej noch einmal.
Dann rannte er los.
Abu Dun rief ihm irgendetwas nach, aber er achtete gar nicht darauf, sondern hetzte mit weit ausholenden Schritten hinter Meruhe
her. So wenig, wie er auf Abu Duns Worte hörte, achtete er auf die
Warnung, die ihm seine Erinnerung zuschrie: dass er Gefahr lief,
sich zu verirren und nie wieder aus diesem Labyrinth herauszufinden, wie es Meruhe gesagt hatte. Es war ihm gleich. Alles, was zählte, war sie einzuholen und ihr zu sagen, wie Leid es ihm tat, wie
schrecklich groß der Irrtum war, dem er erlegen war. Plötzlich, erst
jetzt und viel zu spät, begriff er den Schmerz, den er in ihrem Blick
gelesen hatte. Selbst, wenn es das Letzte war, was er tat, er musste
ihr in die Augen blicken und ihr sagen, dass es seine Schuld war,
dass er sie falsch verstanden und damit vielleicht alles zerstört hatte,
was jemals zwischen ihnen gewesen war oder noch hätte sein können.
Immer schneller werdend rannte er durch die unfertige Halle, schlitterte den Gang mehr entlang, als dass er lief, und prallte gegen die
bemalte Wand, als er die letzte Biegung zu nehmen versuchte. Irgendwo vor ihm war ein Licht, das es vorher noch nicht gegeben
hatte, ein grauer, noch matter Schimmer, der den heraufziehenden
Tag ankündigte. Er glaubte Schritte zu hören, schrie Meruhes Namen
und versuchte gleichzeitig noch schneller zu laufen. Hinter sich -
weit hinter sich - hörte er Abu Duns Schritte, und er hörte auch, dass
der Nubier erneut seinen Namen rief. Andrej hetzte nur noch schneller weiter, erreichte die allerletzte Biegung des Gangs, stellte überrascht fest, wie kurz er war - kaum mehr als anderthalb oder zwei
Dutzend Schritte, nicht mehr der endlose Stollen, an den er sich erinnerte -, bevor er in einem präzise ausgemeißelten Rechteck aus mattem Grau endete. Andrej rannte nur noch
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