Die Verfluchten
blinzelte die
grauen Schleier weg, die seinen Blick noch immer zu verwischen
versuchten, und betrachtete die Malereien auf der gegenüberliegenden Wand genauer. Vorhin, als sie hereingekommen waren, hatte er
eher ihre Kunstfertigkeit und Präzision bewundert, aber er hatte auch
gespürt, dass es nicht nur Zierrat war, sondern dass diese Bilder eine
Geschichte erzählten. Er hatte sie nicht wissen wollen, weil er instinktiv gespürt hatte, dass sie ihn nur erschrecken würde, nun aber
war es nicht einmal besonders schwer, sie zu entschlüsseln.
Es war die Geschichte einer Reise. Andrej kannte sich mit den Mythen des untergegangenen Pharaonenvolkes nicht sehr gut aus, doch
wenn man einmal wusste, wonach man zu suchen hatte, ließ sich die
Botschaft dieser Bilderschrift ziemlich leicht enträtseln. Sie stellte
nichts anderes dar als die Reise, die die Seele des Verstorbenen hinein in die Welt unternahm, die auf der anderen Seite des Todes auf
sie wartete. Er musste nur dem Weg folgen, den Ramses’ gemalte
Seele tiefer hinein in den Berg nahm, um am Ende in das Haus zu
gelangen, das seine Untertanen ihm für die Ewigkeit erbaut hatten.
Die Grabkammer.
Andrej lauschte noch einmal in sich hinein. Das Ergebnis, zu dem
er gelangte, war nicht so entmutigend, wie er befürchtet hatte: Er
fühlte sich noch immer unendlich schwach und müde, aber seine
Kräfte kehrten bereits zurück. Vielleicht war das schon mehr, als er
erwarten durfte.
Er ging los. Der Gang kam ihm länger vor, als er ihn in Erinnerung
hatte, und er verlief auch eindeutig anders - an seinem Ende angekommen, musste Andrej einen scharfen Knick nach rechts und kurz
darauf eine ebenso jähe Biegung nach links machen, danach nahm
das Gefälle des Ganges so sehr zu, dass er sich mit der Hand an der
Wand abstützen musste, um auf dem abschüssigen Boden nicht den
Halt zu verlieren. Weiter ging es durch einen kleineren, nur roh aus
dem Felsen gemeißelten Raum, der offensichtlich nicht mehr fertig
geworden war, denn er war vollkommen leer, und die Wände waren
nicht einmal geglättet worden. Andrejs Beunruhigung wuchs. Bisher
war er an keiner Abzweigung vorbeigekommen, sodass ihm sein
Verstand sagte, dass er zumindest bis zu diesem Augenblick nicht in
Gefahr war, sich zu verirren, aber dieser Gang sah auch nicht so aus
wie vorhin, als Meruhe Abu Dun und ihn durch das Labyrinth geleitet hatte.
Doch ihm blieb nicht genug Zeit, zu erschrecken, denn kaum hatte
er den unfertigen Raum durchquert, sah er ein helles Licht weiter
vorne, und jetzt glaubte er auch wieder Geräusche zu hören, die er
zwar nicht einordnen konnte, die aber irgendetwas in ihm (auf keine
sehr angenehme Weise) berührten. Anscheinend war er doch auf dem
richtigen Weg.
Andrej beschleunigte seine Schritte noch einmal - und fand sich
unversehens in der Grabkammer wieder.
So abrupt, als wäre er gegen ein unsichtbares Hindernis gelaufen,
blieb er stehen.
Abu Dun lag nur wenige Schritte jenseits des Einganges flach auf
dem Rücken. Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf weit in
den Nacken geworfen. Sein Mantel war offen, sodass man seine breite, muskulöse Brust darunter erkennen konnte, auf der Schweiß
glänzte wie Tau auf schwarzem Fels. Meruhe saß rittlings auf ihm
und bewegte sich langsam vor und zurück. Auch sie hatte die Augen
geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Verzückung, der aber ebenso gut auch etwas vollkommen anderes sein
konnte. Wie Abu Dun hatte auch sie den Mantel geöffnet, das Kleid
darunter aber nicht ausgezogen, sondern nur bis zu den Hüften hochgeschoben. Ihre linke Hand lag auf Abu Duns Leib, und Andrej sah,
dass sich ihre Fingernägel so tief in seine Haut gegraben hatten, dass
Blut zwischen ihren Fingern hervorlief. Die andere Hand umklammerte das golden schimmernde Amulett, das sie aus dem versunkenen Tempel in der Wüste mitgebracht hatte, und schien es mit aller
Kraft an ihre Brust zu pressen.
Andrej war nicht fähig, auch nur einen Muskel zu rühren. Wie gelähmt stand er da und starrte Abu Dun und Meruhe an. Seine Gedanken bewegten sich so mühsam, wie ein erschöpfter Wanderer durch
immer zäher werdenden Morast taumelt, sodass ihn jeder Schritt ein
bisschen mehr an Kraft kostet als der vorherige. Er empfand… nichts. Er sollte wütend sein. Erschrocken. Bestürzt oder enttäuscht,
doch in diesem Moment schien er nicht einmal mehr Leere zu empfinden. Er konnte nur dastehen und starren und warten.
Es
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