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Die Verfluchten

Die Verfluchten

Titel: Die Verfluchten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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schneller, strauchelte und
fing sich im letzten Moment an der bemalten Wand ab, bevor er
stürzte.
»Meruhe«, keuchte er. »Das… das wollte ich nicht.«
Obwohl er so laut schrie, dass sein Hals schmerzte, reagierte Meruhe nicht. Sie schien wieder zum Schatten geworden zu sein, wie sie
so dastand, hoch aufgerichtet und vollkommen reglos.
»Es… es tut mir Leid«, brachte er mühsam hervor.
Und endlich erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Mit einer Bewegung, die aussah, als koste sie sie unendliche Mühe, drehte sie den
Kopf und sah ihn an. Ein Ausdruck tiefer, aber verzeihender Trauer
erschien auf ihrem Gesicht. »Es ist gut«, sagte sie. »Ich weiß.«
Da war nichts Abfälliges oder Spöttisches in ihrem Blick. Ihre
Stimme war sanft. Und wie hätte es auch anders sein können?, dachte
Andrej. Wenn es etwas gab, was bei dieser Frau vollkommen unmöglich war, dann, sie zu belügen. Urplötzlich begriff er, dass es
vielleicht nicht so war, dass Meruhe einfach seine Gedanken las. Auf
eine sonderbare Weise, so schien es ihm, sah sie direkt auf den
Grund seiner Seele und erkannte dort Wahrheiten über ihn, die ihm
nicht einmal selbst bewusst waren.
»Es tut mir Leid«, sagte er noch einmal, aber auch diesmal reagierte
sie nur mit einem Kopfschütteln.
»Das muss es nicht«, antwortete sie. »Wenn jemand einen Fehler
gemacht hat, dann ich. Ich hätte es dir sagen sollen.«
»Und warum hast du das nicht getan?«
Das unmerkliche Zögern, bevor sie antwortete, sagte ihm deutlicher, als alle Worte es gekonnt hätten, wie weh ihr diese Frage tat.
»Vielleicht, weil ich Angst hatte, dass du es nicht verstehst«, murmelte sie schließlich.
Bei jeder anderen Frau hätte er widersprochen, und es lag ihm auch
jetzt auf der Zunge, genau das zu tun. Doch dann wurde ihm klar,
wie lächerlich das gewesen wäre. Meruhe wusste nicht nur ebenso
gut wie er, was er wirklich dachte - sie wusste es besser.
Er war fast erleichtert, als sich hinter ihnen Abu Duns Schritte näherten und der Nubier einen Augenblick später schwer atmend neben
ihm ankam.
Meruhes Blick hielt den seinen noch einen Moment lang fest, dann
drehte sie sich wieder um und sah auf die Felsebene hinaus. Die
Sonne war noch nicht aufgegangen, doch der Himmel im Osten hatte
sich bereits fast zur Hälfte grau gefärbt, und eine dünne, blutig rote
Linie zeichnete den Horizont nach. Die kurze Dämmerung dieses
Landes stand unmittelbar bevor.
»Was… was ist passiert?«, keuchte Abu Dun. Er wich Andrejs
Blick aus. Das hörbare Stocken in seiner Stimme war jedoch nicht
nur Befangenheit oder Furcht. Andrej sah alarmiert zu ihm zurück
und erkannte, dass sich der Nubier zwar alle Mühe gab, es zu verhehlen, aber ganz eindeutig zu Tode erschöpft war. Sein Gesicht glänzte
vor Schweiß, und seine Brust hob und senkte sich in schnellen, hektischen Atemzügen. Abu Dun machte ganz den Eindruck eines Mannes, der alle Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten.
»Das Siegel ist gebrochen«, flüsterte Meruhe.
»Und was genau bedeutet das?«, fragte Andrej.
Wieder war es Meruhe anzusehen, welche Mühe es sie kostete, ihren Blick von dem vermeintlich leeren Tal loszureißen und sich zu
ihm umzudrehen. »Dass jetzt jeder dieses Grab betreten kann. Ich
habe befürchtet, dass das passieren würde, aber bis zum letzten Moment gehofft, es möge nicht geschehen.«
»Also ist dein Zauber gebrochen?«, vergewisserte sich Abu Dun.
»Ja«, sagte Meruhe leise. »Und ich bin nicht sicher, ob ich die Kraft
habe, ihn zu erneuern.«
»Oh«, machte Abu Dun. Ein nervöses Lächeln huschte über sein
Gesicht, aber er gab sich nicht einmal Mühe, es echt wirken zu lassen. »Hast du uns nicht selbst erzählt, dass es so etwas wie Zauberei
in Wahrheit gar nicht gibt?«, erkundigte er sich schließlich in fast
lauerndem Ton.
»Nicht in dem Sinn, in dem du das Wort bisher benutzt hast. Es ist
leicht, die Sinne der Menschen zu verwirren, wenn man Zeit hat, um
sie zu studieren, weißt du?« Meruhe hob die Schultern. »Aber vielleicht hast du ja sogar Recht. Das Ergebnis bleibt vermutlich gleich.«
»Und was willst du jetzt tun?«, fragte Abu Dun.
Meruhe hob abermals die Schultern. Sie wollte antworten, brach
aber dann plötzlich wieder ab und sah, auf eine vollkommen andere
Art gebannt, nach Osten. Als Andrejs Blick dem ihren folgte, glaubte
er eine vage Veränderung in den Schatten auszumachen; als wäre
darin etwas zum Leben erwacht, was dort nicht hineingehörte.
»Sie

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