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Die Verfluchten

Die Verfluchten

Titel: Die Verfluchten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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und ausgelaugt, als hätte er nicht viele Stunden geschlafen, sondern wäre im Gegenteil stundenlang gelaufen. Bilder purzelten in seinem Kopf durcheinander, aus dem Zusammenhang gerissene Szenen, in denen Abu Dun, Sand und eine zweite, ebenso schwarze Gestalt, die aber deutlich kleiner und schlanker war, eine Rolle
spielten.
Während Andrej darauf wartete, dass sich seine Augen den veränderten Lichtverhältnissen anpassten und er wieder einigermaßen klar
sehen konnte, stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. Zweifellos
hatte Abu Dun ihn nur necken wollen, als er Meruhe seine Herzensdame genannt hatte, und ebenso zweifellos war sie das nicht. Aber
sie beherrschte seine Gedanken, und das war sonderbar, beunruhigend und auf eine schwer in Worte zu fassende Weise erregend zugleich.
Die fließenden Schemen vor seinen Augen ordneten sich wieder zu
den gewohnten Umrissen, und er sah, dass Abu Dun ein paar Schritte
vorausgeeilt und dann stehen geblieben war, um sich ungeduldig zu
ihm umzudrehen. Etwas stimmte an dem Bild nicht, doch es verging
noch ein weiterer Herzschlag, bis ihm auffiel, was.
Abu Dun war allein.
Das Dünental breitete sich leer und scheinbar vollkommen unberührt hinter ihm aus. Weder von Meruhe noch von ihrem Volk war
irgendeine Spur zu sehen. Der Sand, in dem noch am vergangenen
Abend Hunderte von Füßen ihre Spuren hinterlassen hatten, war jetzt
völlig glatt, als hätte sich jemand große Mühe gegeben, auch wirklich die allerkleinste Spur menschlicher Anwesenheit zu tilgen. Auch
von Ali Jhin und seinen Kriegern war nirgendwo etwas zu sehen.
»Wo sind sie?«, fragte er.
Statt zu antworten, drehte sich Abu Dun wieder um und deutete
nach rechts; in die Richtung, aus der die Reiter in der vergangenen
Nacht gekommen waren. Andrej ging langsam weiter. Sein Blick
suchte den steil ansteigenden Hang ab, und dann, nachdem weitere,
endlose Momente verstrichen waren, sah er sie.
Die ersten Reiter lagen gar nicht einmal so weit entfernt da, allenfalls ein Dutzend Schritte, wenn überhaupt. Dennoch fiel es ihm
schwer, ihre Umrisse im Sand klar zu identifizieren. Sie wirkten
nicht wie etwas Lebendiges, oder auch nur wie etwas, was einmal
lebendig gewesen war. Man hätte den Eindruck haben können, ein
begnadeter (allerdings vollkommen dem Wahnsinn verfallener)
Künstler hätte versucht, aus Sand die Umrisse gestürzter Menschen
und Tiere zu formen, die zum Teil beinahe friedlich, zum Teil auch
in geradezu grotesk verdrehten Haltungen dalagen, so, wie die Ur
gewalt des Sturmes sie niedergeworfen hatte.
Noch einmal blitzte eine kurze Erinnerung an die vergangene Nacht
in Andrejs Gedächtnis auf, eine weitere Impression, von der er sich
bisher eingeredet hatte, sie gehöre zu einem Albtraum: Er glaubte
noch einmal ein dumpfes, unglaublich machtvolles Grollen zu hören,
Thors Hammer, der auf die Welt der Menschen niederfuhr und unter
dem tatsächlich der Boden unter seinen Füßen erzittert war. Das
dumpfe Dröhnen, mit dem die aus Sand geballte Faust des Sturmes
gegen die Düne schlug und dabei alles zermalmte, was ihr in den
Weg geriet.
»Großer Gott«, murmelte Andrej, während er langsam zu Abu Dun
aufschloss und an dessen Seite stehen blieb, als suche er instinktiv
dessen Nähe und Schutz.
»Ich fürchte, euer Christengott hat damit weniger zu tun«, sagte
Abu Dun.
Andrej reagierte nicht darauf, sondern ließ seinen Blick weiter über
die zerschlagene Armee schweifen, die auf dem Dünenhang verteilt
war, als hätte ein tobsüchtiges Riesenkind einen ganzen Korb voller
Puppen ausgeschüttet, nachdem es sie vorher so gründlich zerschlagen, zerrissen und verdreht hatte, wie es nur ging. Ein eisiges Frösteln lief Andrej über den Rücken, als ihm klar wurde, warum es ihm
so schwer fiel, die Umrisse von Mensch und Tier eindeutig zu identifizieren.
Etliche von ihnen besaßen keine mehr.
Die unsichtbare Riesenfaust des Sturmes hatte Pferd und Reiter
teilweise nicht nur regelrecht in den Sand hineingetrieben, sondern
den Sand auch in sie, sodass ihre Körper, aber auch ihre Kleidung,
den gleichen, dunklen Ockerton angenommen hatten, der hier überall
vorherrschte. Es sah aus, als hätte die Wüste damit begonnen, sie zu
verschlingen.
Abu Dun wartete eine Weile vergeblich darauf, dass Andrej etwas
sagte, dann ging er mit langsamen Schritten zu einem der am nächsten liegenden Reiter hin und ließ sich in die Hocke sinken, allerdings
in gehörigem Abstand, als wage er es nicht, der bizarren Skulptur, zu
der

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