Die Verfluchten
Mensch und Tier im Tode miteinander verschmolzen waren, zu
nahe zu kommen.
Andrej folgte ihm mit klopfendem Herzen. Der dumpfe Schrecken,
den er bisher verspürt hatte, steigerte sich zu purem Entsetzen, als er
hinter dem Nubier stehen blieb und genauer sah, was der Sturm seinen Opfern angetan hatte.
Sie waren nicht einfach nur von Sand bedeckt. Der Sand war tatsächlich in ihre Haut und ihr Fleisch eingedrungen und schien es an
zahlreichen Stellen einfach ersetzt zu haben, sodass er auf einen
Körper hinabsah, der nur noch zum Teil aus zerrissener Haut und
Fleisch bestand, zu einem anderen aus Sand, der die Form dessen
angenommen hatte, was zuvor dagewesen war; eine schreckliche,
letzte Verhöhnung des Lebens, mit der die Wüste ihre Macht demonstrierte. Wo das nicht der Fall war, schimmerten nur zu oft blank
gescheuerte, weiße Knochen durch das, was einmal Fleisch gewesen
war.
»Großer Gott«, flüsterte Andrej noch einmal. Nur mit Mühe gelang
es ihm, seinen Blick von dem schrecklichen Bild loszureißen und den
Nubier anzusehen. »Jetzt… jetzt verstehe ich, was du gemeint hast.«
»Das glaube ich nicht, Hexenmeister«, murmelte Abu Dun. Auf
seinem Gesicht erschien wieder das gewohnte, breite Grinsen, das so
sehr zu ihm gehörte wie der schwarze Turban und sein grobes Benehmen, doch Andrej spürte, dass der Nubier unter dieser Maske
ebenso erschüttert war wie er selbst. »Ein Khamsin ist schrecklich,
aber so etwas habe ich auch noch nicht gesehen.«
Mit sichtlicher Überwindung streckte er den Arm aus und grub einen Moment lang im Sand. Als er die Hand wieder zurückzog, hielt
sie das Schwert des toten Kriegers. Oder das, was davon übrig war.
Die Waffe bestand nur noch aus Metall. Das Leder, mit dem der
Griff umwickelt gewesen war, war ebenso spurlos verschwunden wie
das, was sich einmal an seinem Ende befunden haben musste, vielleicht ein Schmuckstein oder eine kunstvolle Schnitzerei. Dort befand sich jetzt nur noch ein Ring aus blankem Metall. Abu Dun drehte sich in der Hocke halb um und hielt das Schwert so in die Sonne,
dass grelle Lichtreflexe aus seiner Klinge sprangen. Der Stahl wies
nicht den feinsten Kratzer auf, sondern schimmerte wie sorgsam poliert, als käme er geradewegs aus der Werkstatt des Schmieds, der
diese Waffe erschaffen hatte. Andrej versuchte vergeblich, sich die
Gewalten vorzustellen, die nötig gewesen waren, um so etwas zu tun.
»Kein… Khamsin?«, vergewisserte er sich.
»Doch«, antwortete Abu Dun, aber Andrej hatte den sicheren Eindruck, dass er viel lieber Nein gesagt hätte. »Aber irgendetwas daran
war…«
Er sprach nicht weiter, doch Andrej wusste, was er hatte sagen wollen. Ihm erging es nicht anders als dem Nubier. Auch er konnte das
Wort, das ihm in den Sinn kam, nicht aussprechen.
Er stand auf. »Ali Jhin?«
Abu Dun legte das Schwert wieder aus der Hand und machte sich
sogar die Mühe, es sorgsam wieder mit einer dünnen Sandschicht zu
bedecken, bevor er sich ebenfalls erhob und mit den Schultern zuckte. »Wenn er irgendwo hier ist, dann habe ich ihn jedenfalls nicht
gefunden.« Etwas leiser und mit einem abermaligen Schulterzucken,
das aber nur Ausdruck seines Unbehagens war, fügte er hinzu: »Ich
habe allerdings nicht nach ihm gesucht.«
Vermutlich hätte das auch keinen Zweck gehabt, dachte Andrej.
Der Sand hatte, einer grausamen Laune folgend, zwar zum Teil sogar
die Gesichtszüge seiner Opfer konserviert, aber es erschien ihm
trotzdem unmöglich, einen bestimmten Mann unter all diesen Toten
zu identifizieren. Und warum auch? Ali Jhin hatte sich an der Spitze
seiner Männer befunden, als die Faust der Wüste zugeschlagen hatte.
Er war zusammen mit ihnen gestorben.
»Und Meruhe und die anderen?«, fragte er stockend.
Abu Dun schüttelte stumm den Kopf.
»Ich verstehe«, sagte Andrej leise. Ganz egal, wie sehr er sich das
Gegenteil auch einzureden versuchte, der Gedanke ließ ihn nicht kalt.
Eine tiefe Trauer griff nach seinem Herzen, und dass er dieses Ge
fühl nicht wirklich verstand, machte es eher noch schlimmer.
»Nein«, sagte Abu Dun ruhig. »Ich glaube, du verstehst nicht.«
Andrej sah ihn fragend an. Abu Dun machte zwei weitere Schritte
von dem toten Reiter weg, drehte sich dann wieder dem Tal zu und
machte eine weit ausladende, deutende Geste. »Sie sind nicht da.«
»Wie meinst du das?«, fragte Andrej.
»So, wie ich es sage«, antwortete der Nubier. »Keiner von ihnen ist
hier. Ich habe das ganze Tal abgesucht.« Er hob die Schultern. »Keine
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