Die Verfolgerin - Roman
sie nicht zu halten ist, entweicht. Jetzt habe ich ein heisses Gesicht und Kopfschmerzen. Ich sitze an dem langen Esstisch, vor mir dampft schwarzer Kaffee aus einer Tasse vom Kaffeegeschirr Maria. Ich denke, dass ich in diesem Haus wohne, weiter meine Gedanken verfolge und meiner Arbeit als Verfolgerin nachgehe, bis ich meine, dass es genug ist. Wann es genug ist, entscheide ich intuitiv. Und wenn es vorbei ist, lebe ich weiter in diesem Haus, sitze an diesem Tisch, trinke Kaffee oder Wein, speise ein Mal im Jahr mit Lisa und Emilia und erledige gelegentlich Aufträge für die Goldmann. Mein Leben ist eingerichtet. Bis zum Schluss. Ich trinke eine Kanne Kaffee und schaue mir am Abend eine DVD an. Matchpoint, einen Woody Allen Film.
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Ich eile zu Gleis fünf am Ostbahnhof. Die S-Bahn fährt acht nach zehn. Ich habe zehn Minuten Zeit. Ich will zum Flughafen. Ich will dort Menschen finden, die ich verfolgen kann. Ich gehe wieder meiner Arbeit nach, sozusagen. Dass es meine Arbeit ist, muss ich mir immer wieder sagen. Denn die meisten verstehen unter Arbeiten, dass sie etwas tun, um Geld zu verdienen. Meine Arbeit besteht darin, einem theoretischen Wunsch nachzugehen, Grenzen zu überschreiten und dies zu dokumentieren. Insofern bin ich eine Künstlerin. Extrembergsteiger sind auch Menschen, die Grenzen überschreiten und dies dokumentieren. Es ist kalt auf Bahnsteig fünf. Minus sechs Grad. Kein Schnee. Die Wolken haben Farbe und Konsistenz von geronnener Milch. Ich laufe den Bahnsteig auf und ab. Von einem Ende zum anderen. Damit ich warm bleibe. Die Füsse, die Hände. Der Kopf nicht. Das Gesicht auch nicht. Ich schaue mir die Gesichter der Wartenden an. Am Ende des Bahnsteigs steht eine Afrikanerin. Sie ist beleibt und in Tücher gewickelt. Sie trägt eine graue Wollstrumpfhose, Stiefel und Anorak mit Pelzkragen über den Tüchern. Über ihren Kopf hat sie die Kapuze gezogen. Die frostige Luft berührt ihr Gesicht. Das ist ihr unangenehm. Das kann ich sehen. Ein solcher Ausdruck liegt auf den Gesichtern von den meisten, die hier warten. Es ist, als beginne die Gesichtshaut zu gefrieren. Wie auf einem See das Wasser erst mit einer hauchdünnen Schicht zu gefrieren beginnt. Ein Pärchen steht nah am Kiosk. Sie versuchen sich vor der Kälte zu schützen. Beide schätze ich Anfang sechzig. Sie sind schlank, klein und gepflegt. Er im Anzug mit wollenem Jacket. Sie im wollenen Blazer. Beide tragen Mokassins. Lackleder. Der Kiosk ist geschlossen. An der Treppe steht ein Mädchen und weint. Sie trägt eine rosa Daunenjacke und eine flauschige Mütze, ebenfalls rosa. Ihr Gesicht auch, vom Weinen. Sie spürt den Frost nicht. Neben ihr ein Mann. Der Vater? Er tröstet sie nicht. Er steht neben ihr und legt hin und wieder seine Hand auf ihre Schulter.
In der S-Bahn schaue ich mich um, wer in Frage käme. Das Mädchen weint noch. Nicht mehr so heftig. Der Mann, von dem ich dachte, dass er ihr Vater sein könnte, ist nicht bei ihr. Unter den Passagieren sitzt ein Mann, der im Profil wie die Alabaster-Büste eines griechischen Kriegers ausschaut. Er trägt eine Mütze, die geformt ist wie ein antiker Kriegerhelm. Sein Gesicht im Profil ist antik. Ebenmässig mit einem ausdrucksstarken Kinn, einer hohen Stirn. Ich beobachte ihn. Er schaut nicht zu mir. Ich nehme mir vor, ihn so lange zu beobachten, bis er es bemerkt. Er bemerkt es nicht. Er schaut aus dem Fenster. Seine Gedanken sind auf Reisen. Er mit ihnen.
Mir gegenüber sitzt ein Mann mit einer braunen Lederjacke. Die ist innen mit Lammfell gefüttert. Den schaue ich an. Erst vorsichtig. Als schaute ich zufällig. Er erwidert meinen Blick nicht, sieht mich nicht. Ich schaue länger hin. Nichts. Unsere Knie berühren sich fast. Der Mann hat schwarze Augen, einen dunklen Teint, ist kräftig gebaut. Anfang vierzig. Ich schaue ihm in die Augen. Er schaut an mir vorbei, scheint es nicht zu bemerken, sieht mich nicht an. Dann öffnet er seine Jacke, sucht etwas in der Innentasche. Es könnte eine Pistole sein. An so etwas denkt man wegen dem verschlossenen Gesicht. Wir sind in Unterföhring. Der SBahnhof in Unterföhring ist unterirdisch. Der einzige, der unterirdisch auf der Strecke zum Flughafen ist. Er ist sauber und mit angenehm warmem Licht ausgeleuchtet. Wer den Bahnsteig betritt, verlässt die alltägliche Welt. Der betritt die Welt der Fernsehstudios, der gewünschten Welt, der Fiktionen. Es steigen viele junge Menschen aus, vor allem viele Frauen mit langen blonden
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