Die Verfolgerin - Roman
dicke Kreuze auf einen Zettel. Mit Bleistift. Er drückt fest auf. Das Papier zerreisst. Ich bin dran. Die Redakteurin winkt. Ich stelle mich vor die Wand. Ich sage: 191164. Das ist mein Geburtsdatum. Ich sage, dass ich keinen Beruf habe, nur studiert. Philosophie. Ich sage, dass ich keinen Namen habe, als Autorin. Ich sage, dass ich über Abfallverwertungsunternehmen schreibe und zwar so, dass die Leser meinen, dass das Unternehmen das beste ist, oder dass ich mir Titel für Firmenzeitungen ausdenke. Während ich das sage, drehe ich mich nach rechts, so dass mein Profil erscheint, und dann nach links.
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Als ich das Studio verlassen will, ist Till an meiner Seite. Er begleitet mich, den Flur entlang, ins Foyer, die Treppe hinunter ins Freie. Ich hoffe, dass er sich verabschiedet, seines Weges geht, in eine seiner Lieblingskneipen fährt, ein Schnitzel bestellt oder ein Brathähnchen, dazu Rotwein oder ein dunkles Bier. Er läuft neben mir her zur U-Bahn. Vielleicht haben wir einfach nur denselben Weg, denke ich und frage ihn. Er wolle mich begleiten, verfolgen, was ich tue. In seinen Augen blitzt etwas. Das beunruhigt mich. Ich spüre das im Magen. Ich weiss nicht, ob meine Augen ihm davon etwas mitteilen. Ich muss davon ausgehen. Vielleicht sind es auch nicht die Augen, vielleicht teilen ihm meine Mundwinkel etwas von meiner Beunruhigung mit, weil sie etwas zucken oder sich anspannen. Man muss immer damit rechnen, dass man durch Gestik, Blicke oder irgendeinen Ausdruck dem anderen etwas mitteilt, von dem wir wollen, dass er es nicht mitbekommt. Und wir müssen immer damit rechnen, dass der andere etwas Falsches in unserem Gesicht liest. Till fragt mich, was ich denke. Ich erzähle es ihm. Er will wissen, was mich beunruhigt. Ich sage ihm, dass das zu weit geht. Dass er keine Gedankenpolizei sei. Dabei frage ich mich, was denn eine Gedankenpolizei tun würde, falls es eine solche gäbe. Gedanken kontrollieren, bewerten, verbieten, bestrafen. Wie kann jemand Gedanken lesen, wenn keiner weiss, woraus Gedanken bestehen? Ich stelle mir vor, wie wir am Flughafen durch einen Gedankenscan laufen müssen. Was ist, wenn wir dann eine Art Gedankenzwang entwickeln und denken, dass wir den Piloten in der Maschine erdrosseln, obwohl wir es gar nicht vorhaben. Und wenn wir es vorhätten, würden wir vermutlich an eine grüne Blumenwiese, an Sex oder einen Sonnenuntergang am Meer denken. Aber vielleicht sind generell alle Gedanken, die mit starken Empfindungen verbunden sind, für die Gedankenpolizei ein Hinweis, dass wir etwas zu verbergen haben. Till sagt, dass er in der Tat keine Gedankenpolizei sei, aber Filmemacher und Drehbuchautor und als solcher interessiere er sich für die Gedankenwelt seiner Figuren. Ich sage ihm, dass ich keine Figur, sondern ein Mensch bin und er sich, wie er sich Figuren ausdenkt, auch die Gedankenwelt ausdenken kann. Er drehe eine Dokumentation. Die lebe von Authentizität, entgegnet er. Ich will nicht mehr mit Till reden. Vor mir auf dem Bahnsteig steht eine Frau mit einem Lammfellmantel. Der ist nicht mehr ganz neu. Die Frau ist schmal. Sie ist eine Münchnerin. Ich denke das, weil sie eine gerade Haltung hat. Die Goldmann ist Müncherin und hat eine ebensolche gerade Haltung. Sie erzählte mir, dass sie als Kind bei Spaziergängen mit ihrem Vater durch den Nymphenburger Wald einen Stock entlang der Wirbelsäule unter den Pullover gesteckt bekommen habe. So habe sie stundenlang neben ihm herlaufen müssen. Die Frau im Lammfellmantel sieht der Goldmann ähnlich. Sie ist schmal und hat einen Gesichtsausdruck, als stünde sie über all den Menschen, denen sie in der Stadt begegnet. Sie hat lange, blonde Haare, einen gepflegten Teint, ist grazil wie eine Tanzlehrerin. Vor sie schiebt sich Till. Er blickt in meine Augen, als wolle er darin lesen, was ich denke. Er fragt, ob ich ihm zuhöre. Er dreht sich um, um zu sehen, was ich sehe. Die Frau mit dem Lammfellmantel. Till sagt, dass er wissen möchte, an welchem Projekt ich gerade arbeite. Mit der Geschichte von der Abfallanlage habe ich ihn doch offensichtlich ablenken wollen. Eine Autistin wüsste sofort, wie viele Buchstaben das Wort Gedankenpolizei hat, denke ich und an die Tochter der Goldmann. Die Frau mit dem Lammfellmantel steigt in die einfahrende S-Bahn. Till und ich auch. Ich will die Frau im Lammfellmantel verfolgen. Warum Till einsteigt, weiss ich nicht. Er hat sein Auto auf seinem namentlich gekennzeichneten Parkplatz vor dem Studio
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