Die Verfolgerin - Roman
eine fiktive. Das sei allein unser Geheimnis. Nicht nur das: Sex und Mord, sagt er. Ich finde es unpassend, dass er es sagt. Damit wird meine Arbeit auf ein Klischee reduziert. Till meint, dass die Menschen Klischees wollen, gut verpackte, sodass man nicht sieht, dass es sich um ein Klischee handelt. Meine Arbeit der letzten Monate an den Wänden von Till. Ein grossartiges Gefühl. Ich habe viel geleistet. Alles dokumentiert. Till spricht das Wort grossartig in dem Moment, in dem ich es denke, aus. Weisst du, was ich so grossartig an deiner Arbeit finde, sagt er. Dass du zeigst, welche Dimension Terror annehmen kann. Er ist nicht mehr zu berechnen. Keiner käme auf die Idee, dass du, eine Frau mit zwei Kindern, aus geordneten bürgerlichen Verhältnissen, auf die Idee kommst zu töten. Ich will nicht, dass er seine Gedanken in diesem Raum, in dem die Filme noch immer ohne Ton an den Wänden laufen, ausbreitet. Ich frage ihn, ob er etwas zu essen habe, etwas Baguette zum Wein, etwas Käse, Schinken oder Salami, vielleicht auch Oliven. Till lacht. Selbstverständlich, sagt er und geht in die Küche. Ich höre sein Telefon. Vermutlich ruft wieder seine Frau an und Till sagt, dass er nun sein Handy ausschaltet. Welchen Grund er diesmal nennt, kann ich mir nicht vorstellen, denn ein Stromausfall würde seine Frau einen Tag vor dem Einzug beunruhigen. Ich suche in Tills Computer die Datei mit dem Film. Ich speichere sie auf meinen Stick ab und lösche den Film von Tills Notebook. Ich verlasse das Haus durch die Terrassentür. Es kann sein, dass Till den Film auf einem anderen Computer oder auf anderen Speichermedien hat. Es kann sein, dass Rohmaterial vom Film ungeschnitten existiert. Ich verbiete mir diese Gedanken.
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Emilia ruft an: Ich solle den Artikel über den Tod dieses Regisseurs lesen. Diesem Till Noteboom. Den hätte ich doch gekannt. Der sei tot in seinem neuen Haus aufgefunden worden. Sei ich nicht an jenem Abend bei ihm gewesen? Ich sage, dass das sein könne, aber als ich fortging, habe er gerade mit seiner Frau telefoniert.
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Lisa ruft an. Ihr Ton ist sachlich und wirkt streng. Sie sagt, dass sie gestern noch veranlasst habe, bei Till Noteboom nach Rizin zu suchen. Sie habe zufällig mit dem Kollegen, der Tills Tod festgestellt hat, zu Abend gegessen. Der Kollege habe sie natürlich gleich gefragt, wie sie darauf komme. Sie habe nichts von ihr gesagt. Sie habe abwarten wollen.
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Sehen Sie, der Bürgermeister ist tot, sagt die Goldmann. Und wir haben das Interview. Ja, sage ich und picke mir ein Häppchen Baguette mit Avocadocreme vom Buffett. Die Goldmann und ich sind zum zehnjährigen Bestehen des Abfallunternehmens eingeladen. Es ist pietätlos, das Interview, so wie es in der Festschrift steht, abzudrucken. Ohne Anmerkung, ohne Nachruf, denke ich, während die Goldmann weiterspricht.
Leider sei ihr der Film mit Till Noteboom nicht rechtzeitig geglückt. Mit dem wollte sie eigentlich eine Doku über Autismus machen. Wer denkt auch schon, dass ein Mann Mitte vierzig stirbt. Aber jetzt ist der Fall doch was für Sie: Wollten Sie nicht mal einen Roman schreiben über Giftmorde? Bei dem haben die doch nach Rizin gesucht. Sie wollten doch wissen, woher man Rizin herbekommt. Recherchieren Sie doch mal, wie die darauf kommen nach Rizin zu suchen. Vielleicht finden Sie ja dann auch einen Hersteller. Vielleicht ist das ja Stoff für eine Story.
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Till Noteboom starb an einem Herzinfarkt. Der Rizinverdacht habe sich nicht erhärtet. Das stand heute in der Zeitung. Ich habe Tills Filmmaterial sorgfältig gesichtet und die Namen und Adressen von 13 der Getöteten herausgefunden. Herausgefunden habe ich auch, wo sie begraben oder beigesetzt wurden. Ich sitze im Café Puck. Wenn ich mein Falafelsandwich aufgegessen habe, besuche ich die Toten auf dem Friedhof. Ich habe dreizehn Rosen gekauft. Die sehen sehr schön aus. Altrosa mit grünem Rand um die Blütenblätter. Jeder bekommt eine Rose auf die letzte Ruhestätte gelegt. Es sind sieben Frauen und sechs Männer. Ich markiere die Friedhöfe auf meinem Stadtplan. Sie bekommen ein grünes Fähnchen. Es sind Friedhöfe darunter, die zwei Fähnchen bekommen. Ausserdem fotografiere ich die Gräber und markiere die Grabstellen auf den jeweiligen Friedhofsplänen. Vielleicht wollen Interessierte die Grabstellen besuchen, so wie Menschen die Grabstellen berühmter Philosophen, Dichter, Musiker, Komponisten, Schauspieler besuchen. Über die anderen vier, die ich
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