Die Verfolgerin - Roman
Bürgermeister scheint das nicht zu stören. Er weiss vermutlich, was ich fragen will, und erzählt weiter. Da komme die neue Biokompostanlage, mit der auch Strom erzeugt werden könne, hin. Ein Kameramann hält die Kamera auf den Bürgermeister, dann wieder auf mich, dann auf die Biokompostanlage und auf den gefrorenen Erdhügel. Till steht breitbeinig mit verschränkten Armen neben mir und hört dem Bürgermeister aufmerksam zu. Der Bürgermeister wischt sich erneut über die Stirn. Es ist kalt. Nebelschwaden ziehen über das Feld auf den Hof des Abfallverwertungsunternehmens. Das Thermometer am Eingang hatte minus acht Grad angezeigt. Der Bürgermeister ist bei den Zahlen angelangt. Ich habe ihn nicht danach gefragt. Aus vierzehntausend Tonnen Grüngut im Jahr wird Biogas. Zweimillionenfünfhunderttausend Kilowattstunden Energie. Ich überlege, wie ich daraus ein Interview für die Festschrift machen kann. Der Bürgermeister schlägt vor, in die Kantine zu gehen und zu frühstücken. Er reicht Till die Hand und sagt, dass Till und der Kameramann ihn nicht begleiten können. Er sagt nicht warum und keiner fragt. Ein andermal gern, sagt der Bürgermeister.
Till filmt, wie wir auf den Flachbau zugehen, in dem sich die Kantine befindet. Vor uns fliegt eine Krähe auf. Der Bürgermeister sagt, dass er Krähen mag. Bei ihm im Garten wohne ein Kolkrabe, dem habe er sprechen beigebracht. Ich frage ihn, was er denn sagt. Simon, du bist ein Arschloch, antwortet der Bürgermeister und zwinkert mir zu.
27
Von jetzt an habe ich den Stock immer dabei. Von jetzt an fahre ich als Verfolgerin mit der U-Bahn und spaziere durch die Stadt als solche. Der Stock ist mit der Zahl 64 gekennzeichnet, weil ich Jahrgang 64 bin. 1964er Jahrgang muss man sagen, weil wir bereits in einem anderen Jahrtausend leben. Im Jahr 2010. Wir 1964er sind viele. Till ist auch dabei. 1,4 Millionen Menschen sind 1964 geboren. So viele wie in keinem Jahrgang mehr in diesem Land. Ich schaue mich unter den Passagieren in der U-Bahn um. Ich entdecke die steinerne Frau. Ich nenne sie ›die steinerne Frau‹, weil diese Bezeichnung zu ihrer Erscheinung passt. Ein paar Sitzplätze von mir entfernt sitzt sie. Sie fällt auf unter all den Fahrgästen, weil sie gerade und unbeweglich dasitzt. Weil sie nicht ihre Augen und nichts in ihrem Gesicht bewegt. Ihre Haut glänzt. Wie Wachs. Das überzieht ihr asketisches Gesicht. Sie trägt einen Mantel. Ich würde ihn als fein säuberlich bezeichnen. Sie sitzt aufrecht da. Gerader Rücken. Sie gibt ein symmetrisches Bild ab: Ihre beiden Arme sind angewinkelt und ihre Hände umfassen die Griffe ihrer Handtasche, die genau in der Mitte ihres Schosses steht. Von ihren Lippen gehen rechts und links schmale Falten nach unten zum Kinn. Ich habe den Stock und meine Kamera dabei. Ich halte sie in der Hand. In Hüfthöhe. Ich drücke auf den Auslöser, sodass es keiner bemerkt. Vielleicht habe ich ihr Gesicht, den leeren Ausdruck, festgehalten. Ich fotografiere nicht, um Emilia zu zeigen, dass es solche Menschen gibt. Ich fotografiere, weil ich alles, was ich denke und tue, vom ersten Tag an dokumentiere. Die Gesichter von Menschen, die ich verfolge, gehören dazu. Die steinerne Frau steigt an der Haltestelle Odeonsplatz aus. Ich verfolge sie. Die Kamera stecke ich in meine Umhängetasche. Auf dem Bahnsteig spielt leise Musik. Vivaldi. Die Klänge rieseln wie warmer Nieselregen die Wände herunter. Das beruhigt. Sie nimmt den Ausgang Hofgarten, fährt dem Tageslicht auf der Rolltreppe entgegen. Ich verfolge sie, indem ich die Treppe neben der Rolltreppe nehme, immer zwei Stufen auf einmal. Ich spüre, wie kaltes Schweisswasser von der Brust über meinen Bauch rinnt, wie das Hemd festklebt, wie mein Gesicht nass ist. Ich versuche ruhig zu atmen. Aus dem Treppenschacht weht ein Luftzug über mein Gesicht. Die steinerne Frau fährt die nächste Treppe hoch. Wie eine Puppe steht sie, die auf einem Fliessband transportiert wird. Nur nicht ihr Gesicht sehen. Vielleicht ist jetzt darin etwas zu lesen, vielleicht ein Lächeln oder sie schliesst leicht die Augen, weil ihr auch ein Luftzug übers Gesicht weht. Sie dreht sich herum, als fühlte sie sich beobachtet, als ahnte sie, dass ich da bin, dass ich versuche sie zu lesen, auf meine Art. Ihr Gesicht ist leer. Ich folge ihr. Sie marschiert durch das steinerne Tor in den Hofgarten. Ich komme ihr näher. Die Luft ist frostig. Krähen fliegen auf. Ihr Krächzen schwebt über uns. Ich
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