Die Verfolgerin - Roman
Haaren. Der Mann mit der braunen Jacke auch. Ich überlege kurz, eile ihm hinterher. Ich bin aufgeregt. Es ist nicht einfach, mein Vorhaben umzusetzen, Gedanken zu einer Handlung werden zu lassen. Ich sage mir, dass ich vorerst nur verfolgen muss, dass ich die Tat nicht ausführen muss. Ich bin mein Auftraggeber. Ich kann ruhigbleiben. Es wird mein Leben nicht beeinträchtigen, wenn ich es nicht tue. Ich könnte einfach mit der nächsten S-Bahn weiter zum Flughafen fahren, mir Menschen anschauen, in ihren Gesichtern lesen und am späten Nachmittag hierher zurück in Tills Studio fahren. Dort findet am Nachmittag ein Dreh statt. Der Stock in meiner Hand fühlt sich besser an, wenn ich ihn rechts halte. Er ist zusammengeschoben. Das Rad um die Stockspitze habe ich entfernt. Ich verfolge den Mann mit der braunen Jacke die Rolltreppe hoch. Seine Hände stecken in den beiden Jackentaschen. Er läuft einen Weg entlang, den eine Hecke auf der einen und ein Maschendrahtzaun auf der anderen Seite säumen. Der Weg führt in die Studiostadt. Quadratische Häuserblocks ohne Fenster. Sendemasten ragen von den Dächern in den Himmel. Dazwischen die Logos der Fernsehsender: BR, Pro 7, Sky, ZDF-Studios, N24. Und der Slogan auf wehenden Fahnen: »We love entertain«. Ich kann im Gehen den Teleskopstab ausziehen. Das ist möglich, aber zu auffällig. Ich kann nicht gleichzeitig den Stock ausziehen und dem Mann mit der braunen Jacke näher kommen und ihn mit dem Stock berühren. Ich beschliesse, den Stock so zu lassen, wie er ist. Ich konzentriere mich auf den Mann, auf seinen Po. Menschen mit leeren Gesichtern spüren nicht, dass man sie verfolgt, dass man mit seiner gesamten Aufmerksamkeit bei ihnen ist. Sie sind tot oder stellen sich tot. Der Mann mit dem verschlossenen Gesicht geht durch die Studiosiedlung hindurch, auf eine Wohnsiedlung zu. Ich sehe sein Gesicht nicht. Wir laufen zwischen mannshohen Hecken einen Fussgängerweg entlang. Niemand ist bei uns. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, halte es ans Ohr, laufe schneller. Es soll so aussehen, als würde ich telefonieren. Das lenkt die Aufmerksamkeit von möglichen Beobachtern von meinem Stock fort. Ich höre mein Herz. Es schlägt in den Ohren. Nicht daran denken. Sich konzentrieren. Wie ein Krieger. Auf den Stoss. Unterhalb der braunen Lederjacke in den Po. Der Mann dreht sich herum. Ich schaue ihn mit meinem Handy am Ohr an. Erschrocken, so, als wäre ich wegen des Telefonierens unaufmerksam gewesen und selbst erschrocken, dass ich ihn mit der Stockspitze so heftig berührt habe. Ich sage, dass es mir leid tue. Ob ich ihm sehr wehgetan habe. Der Mann mit dem verschlossenen Gesicht winkt ab und läuft weiter. Ich bleibe mit dem Handy am Ohr stehen. Der Mann mit dem verschlossenen Gesicht hat seine Schultern gewölbt, wie Vögel Flügel etwas anheben, unentschlossen sie auszubreiten. Mein Handy klingelt. Ich schaue auf das Display: »Till« steht darauf. Er fragt, wo ich bin. Ich sage, dass ich gleich an der S-Bahnstation Unterföhring sein werde und dass ich mit der U-Bahn zum Flughafen fahre. Er fragt, wieso ich bei ihm in der Nähe sei, das Treffen im Studio sei doch erst um fünf am Nachmittag. Ich sage Recherche. Ach so, für was? Will er wissen. Er will in mich eindringen. In meine Gedanken. Ich entziehe mich, rufe hallo, hallo ins Telefon und dass ich jetzt auflegen muss, weil ich ihn nicht mehr hören könne. Keine Verbindung. Kein Empfang.
31
Die Bedienung bei Leysieffer im zentralen Areal am Flughafen, eine junge Frau mit blondem ausgefranstem Pony, Pferdeschwanz und einem abweisenden Ausdruck im blassen Gesicht, schaut die Menschen, die sie bedient, nicht an. Wenn sie aufschaut, dann nur, um zu sehen, wie viele Leute sich im Gastronomieareal befinden, um abzuschätzen wie viel Arbeit sie erwartet. Es sind nicht viele Menschen hier. Flugreisende. Wartende. Flughafenpersonal. Und ich. Ich sitze in einem der Ledersessel. Ich habe mir eine Tasse heisse Schokolade von der Kaffeebar geholt. Mich hat sie auch nicht angeschaut. »Are these seats taken?«, fragt mich eine Frau. Sie platziert ihre zwei Mädchen auf einen der Sessel und geht zur Kaffeebar. Ihr Mann packt seinen Laptop aus. Die Mädchen lassen ihn in Ruhe. Ich stelle mir die Bedienung mit dem ausgefransten Pony und dem abweisendem Gesicht zuhause mit einem Partner vor. Wird sie ihn auch nicht sehen? Jeder Mensch hat andere Gedanken. Wenn wir feststellen, dass Gedanken mit jemandem übereinstimmen, dann
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