Die Verführung der Mrs. Jones
geführt. Ja, sie wollte gefallen. Das nette Mädchen von nebenan sein. Sie war irgendwie erschüttert über diese Erkenntnis. Scheu blickte sie Reto an. Seine Antwort war ein langer Kuss. Dann sagte er freundlich, aber bestimmt: „Es gibt keinen Grund, traurig zu sein, Sandra. Lassen Sie uns die gemeinsame Zeit genießen. Einverstanden?“
Sandra nickte und schloss ihre Bluse. Dann zog sie den Rock wieder an. Natürlich stimmte das, was er sagte. Sie hatte keinen Anspruch auf Gefühle; was er ihr bot, waren Gesellschaft und Sex. Und zwar sehr offen und fair. Sie würde sich damit begnügen müssen.
Da meldete sich der Fahrer: „Wir sind da. Wo darf ich Sie absetzen?“
Reto nannte ihm eine Adresse, und wenig später hielt die Limousine auf einer Anhöhe, die einen wundervollen Blick über den See bot.
„Mein Lieblingsort“, erklärte Reto, „ich wollte Ihnen den Platz schon jetzt zeigen. Wer weiß, ob wir auf dem Rückweg noch Zeit dafür finden.“
Sandra blickte sich um. Vom Hügel aus öffnete sich der Blick ins Tal, bis hin zur Kathedrale, die nahe am Ufer lag.
„Wunderschön.“
„Ja.“ Retos Stimme war auf einmal ganz weich. „Wenn ich meine Gedanken sortieren muss, wenn ich nachdenken will, komme ich gern hierher und gehe ein wenig spazieren.“
Sandra fühlte einen zarten Stich. Warum jetzt wieder diese Vertraulichkeit? Sie holte tief Luft, genoss das mediterrane Panorama. Ihr Handy brummte. Natürlich. Katharina, wer sonst? Sandra hatte kein Bedürfnis, auf das Display zu schauen, aber vielleicht war es wichtig. In Vietnam war es früher Abend. Sie wandte sich an Reto: „Entschuldigen Sie.“
Der lächelte und schaute ihr dabei zu, wie sie das Telefon aus der Handtasche fischte. Sie sah auf die Anzeige, konnte ihren Augen nicht glauben. Ihre Gesichtszüge wurden ernst.
„Was ist passiert?“, wollte Reto wissen, doch Sandra machte eine abweisende Geste. Es war eine Nachricht von Thomas.
Hallo Sandra. Hatte einen Unfall und bin auf dem Rückweg. Katharina sagte, Du bist am Dienstagabend wieder in Berlin. Bitte lass uns kurz treffen. Gruß, Thomas
„Sandra? Alles in Ordnung?“
Sandra schüttelte den Kopf. „Nein, leider ganz und gar nicht.“
Reto nahm sie am Arm. „Kommen Sie, wir lassen uns jetzt in die Stadt bringen. Ich kenne da ein schönes kleines Ristorante. Vielleicht mögen Sie mir dort ein wenig mehr erzählen.“
6
Die Dorade war köstlich. Sandra ließ sie sich schmecken. Reto unterhielt sie mit einigen Anekdoten und gab sich sichtlich Mühe, sie abzulenken. Schließlich war Sandra soweit und erzählte. Davon, dass sie und Katharina immer in Konkurrenz zueinander standen, wenn es um Männer ging, dass sie die Reise mit ihr getauscht hatte, um einen Mann näher kennenzulernen, und dass die ganze Angelegenheit nun wohl in die Hose gegangen war.
„Das kann doch vorkommen“, bemerkte Reto. Sandra nickte.
„Natürlich. Aber wenn man zusammenarbeitet und auch nach einer solchen Affäre weiter zusammenarbeiten muss, ist das ein bisschen komplizierter. Oder?“
Reto orderte Espresso für sich und Cappuccino für Sandra.
„Mögen Sie Katharina?“, wollte er wissen. Sandra fixierte ihn, überlegte kurz, was sie ihm sagen wollte und was nicht.
„Ja, wir sind befreundet. Trotz der Konstellation Chefin – Mitarbeiterin. Wir können das gut trennen. Aber dieses Mal hat sie ihre Position ausgenutzt, um mich hierhin abzuschieben.“
„Und das nehmen Sie ihr übel.“
Sandra dachte nach. „Ja“, gab sie zu, „ja, das tue ich.“ Sie seufzte. „Aber sie tut mir auch leid. Ich weiß, wie sehr sie sich wieder eine Beziehung wünscht, und es klappt einfach nicht. Sie sucht und sucht …“
„Falscher Ansatz“, erwiderte Reto und rührte in seinem Espresso.
„Ich glaube daran, dass Suchen nichts nützt. Ich denke, man wird gefunden. Ob für eine oder für tausend Nächte, ist dabei egal.“
Er lächelte sie an. Seine hellen Augen glitzerten. Sandra versuchte, diese kleine Anspielung zu überhören, und trank ihren Cappuccino. Reto winkte dem Kellner und lächelte verschmitzt.
„Ich würde Ihnen gerne etwas zeigen. Haben Sie Lust auf ein kleines Abenteuer, Mrs. Jones?“
Sandra folgte ihrem Liebhaber, ohne weitere Fragen zu stellen. Reto führte sie ortskundig durch das Labyrinth der schmalen Gassen. Jetzt, in der Mittagszeit, war Como wie ausgestorben. Vor einer hochherrschaftlichen Villa machte er halt und betätigte die Türglocke. Ein elegant
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