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Die Vergangenheit des Regens

Titel: Die Vergangenheit des Regens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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noch ein zweiter. In der Bewegung sahen die krabbelnden Gliedmaßen tatsächlich aus, als hätte jeder von ihnen mehr als vier, als seien es sechs oder acht. Tjarka rannte, peitschte durch Strauchwerk und Schlingpflanzenvorhänge und zog ihr Waldmesser, um sich entweder einen Weg bahnen oder sich verteidigen zu können. Die Spinnenmänner schnatterten wie Sumpfvögel. Fehlgeleitete Insekten oder Geschosse klatschten links und rechts von Tjarka gegen vergilbtes Blattwerk. Sie machte sich winzig und tauchte wie über eine Hürde über eine tief liegende Astgabel hinweg.
    Dahinter endete abrupt der Urwald.
    Lotrecht kippte der Boden zu einer Schlucht in die Tiefe. Selke Birlens Todesschrei gellte durch jede Faser von Tjarkas winzigem Leib, doch sie selbst schrie nicht. Panisch schnaufend rollte sie sich zusammen, versuchte, Körperbeherrschung in ihren freien Fall zu zwingen. Dann krachte sie splitternd und blättersprühend durch die Krone eines zwanzig Schritt tiefer stehenden Baumes, schürfte sich ihr linkes Bein der Länge nach auf und auch den rechten Unterarm, rammte das Messer durch trockene Rinde und bremste so ihren Sturz. Mehrmals überschlug sich alles, vermischte sich zu einem braungrauen Aufruhr. Das hörbare Winseln musste Tjarkas eigenes sein. Unterhalb des Baumes schlug sie auf eine mit Humus bedeckte schräge Ebene und schlitterte auf dem Bauch noch dreißig Schritt weiter abwärts. Als sie endlich zum Liegen kam, gönnte sie sich keinen Moment des Verschnaufens. Sie kämpfte ihren schmerzenden Körper auf Finger und Zehen und kroch auf allen vieren hinter einem dichten Busch in Deckung. Erst dort gestattete sie sich, zu zittern und wieder zu Atem zu kommen.
    Der Ohne-Regen-Wald ringsum war totenstill. Erst allmählich wurden die Erinnerungen an das Getöse, das Tjarkas Sturz verursacht hatte, von den Geräuschen einiger Waldbewohner vertrieben. Käfer und riesige Tausendfüßler. Zwei geierartige Vögel mit schweren, schwappenden Flügeln auf der Suche nach Aas. Schnarrende Zikaden. Säugetiere schien es hier drinnen in der Trockenheit nicht mehr zu geben.
    Tjarka zog sich die Hose aus und tastete ihr linkes Bein ab. Aufgeschürftes Fleisch und blau sich bildende Flecken, aber kein Knochenschaden, keine tief blutende Wunde. Genauso ihr rechter Unterarm. Sie hatte Glück gehabt. Sie konnte zurückschlagen. Alleine. Gegen wie viele Gegner? Hunderte? Mit wie vielen Pfeilen und Augen und Gliedmaßen? Tausenden?
    Grimmig zog sie sich wieder an und beobachtete erst mal den Abhang, über den sie gesprungen, gestürzt und gerutscht war. Nichts rührte sich dort. Ihre Verfolger hielten sie entweder für tot, vergiftet oder vernachlässigbar.
    Die angelernte Vorsicht ihres Waldläuferlebens riet ihr, den Abhang mindestens zehn Sandstriche lang zu beobachten, bevor sie sich erneut hervorwagte. Aber zehn Sandstriche bedeuteten, dass die Spinnenmenschen oben in aller Ruhe tun und lassen konnten, wonach ihnen der Sinn stand. Falls Bestar, Rodraeg und die anderen noch nicht tot waren, sondern lediglich mit Pfeilgift betäubt, konnte ihnen allen in diesen zehn Sandstrichen das Leben genommen werden. Oder noch Schlimmeres. Schaudernd dachte Tjarka an die Foltertische im Thostwald zurück. An Eljazokad und das, was die verrückten Schinder mit seinem Bein angestellt hatten. An die Grenze aus Fischgräten.
    Eigentlich hatte sie überhaupt keine Zeit zu verlieren. Zuallererst musste sie in Erfahrung bringen, wie dort oben die Lage war. Erst wenn sie festgestellt hatte, dass alle anderen tot waren und Hilfe zwecklos, gab ihr das die Zeit, ihre Vergeltung oder ihren Rückzug sorgfältig zu planen.
    Sie machte sich an den Aufstieg, dabei immer noch den oberen Rand des Abhanges im Auge behaltend. Das Messer leistete ihr beim Klettern gute Dienste als Ankerhaken, und auch die Bäume, die auf der schrägen Ebene wuchsen, gaben ihren Füßen und Fingern Halt und Ruhepausen. Während einer dieser Pausen blickte Tjarka sich in dem Tal, in das sie hinabgepurzelt war, etwas genauer um. Eine Tempelanlage war nirgendwo zu entdecken. Auch ein Berg mit einer Nebelkrone nicht. Alles war rötlich braun und staubverschleiert. Die Sonne versank hinter einem gezackt dunstigen Horizont, aber hier, in dieser Umgebung, war Tjarka sich nicht einmal sicher, ob dort, wo die Sonne unterging, tatsächlich Westen war. Nach dem Thostwald

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