Die Vergangenheit des Regens
war vollkommen lautlos und windstill, doch der Gestank von Gewalt war dermaÃen stark, dass Tjarka, Ukas und dann auch Kinjo sich übergeben mussten. Sogar Bestar und Migal wirkten bleich und käsig. Der Erleuchtete ging ungerührt zwischen den Toten umher und machte dabei Bewegungen mit den Armen, als würde er Musikanten dirigieren.
Rodraeg spürte wieder diese Entfernung zwischen sich und allem anderen. Er versuchte sich dieses Totenfeld von oben vorzustellen, vom Gipfel des Berges aus betrachtet, wenn die Wolkenspitze für einen Augenblick aufriss. Ein abstraktes Muster, Farbspritzer auf dunkler Leinwand, Ameisen, tot. Der Geruch kam ihm vertraut vor. An manchen Tagen hatte auf der Brücke der brennenden Blumen ein Wind geweht, der ähnlich roch und der merkwürdigerweise immer ein starkes Heimweh in ihm ausgelöst hatte. Und in Skerb! In Skerb hatte es auch so gestunken, in der Allee der Gehängten.
Roch es immer so, wo Menschen wohnten?
»Ich weià nicht«, sagte Timbare, und die Worte lösten sich so langsam aus seinem Mund, als klebten sie zwischen seinen Zähnen fest und zögen dort Fäden, »ob es eine gute Idee ist, hier herumzuspazieren. Erleuchteter? Erleuchteter! Irgendetwas stimmt hier nicht, warum gibt es hier keine Insekten? Ãberall sonst, nur nicht hier?«
»Es ist eine Linie gezogen um dieses Grab der Unbestatteten«, raunte Kinjo, der sich hingehockt hatte und den Boden untersuchte. »Wir haben diese Linie bereits überschritten, da, seht ihr? Diese Toten sollen nicht gestört werden, weder von Mensch noch Tier. Sie sind ein Opfer, dargebracht dem ⦠Berg?«
»Das sind die Gataten aus Enenfes Heimatdorf«, stellte Onouk fest, was alle schon längst ahnten. »Spätestens jetzt wäre unser kleiner Führer ohnehin durchgedreht.«
»Die Frage ist«, sagte Tegden, »ob das alle Gataten sind oder ob es einige auf den Berg geschafft haben.«
»Wir werden wohl hinaufsteigen müssen, um das herauszufâ¦Â«, begann Timbare, doch das Wort wurde ihm abgeschnitten von einer Axt, die ihm mitten durchs Gesicht in den Schädel drang. Blut sprühte ihm aus den Ohren, sein ganzer Kopf schien unter dem Aufprall und Eindringen zu zerbersten, dann stürzte er, bereits leblos und in allen Gliedern verdreht, zu Boden.
»Timbare!«, gellte Kinjos Schrei durch die absolute Stille.
Weitere Wurfäxte sirrten durch die Luft, zogen Bahnen aus reflektiertem Sonnenlicht durch den Raum â aber nur eine einzige von ihnen traf. Der Erleuchtete wich vieren aus und schmetterte drei weitere mit seinen Langmessern beiseite. Das Geräusch, das er dabei hervorstieÃ, klang wie ein höhnisches Lachen. Onouk duckte sich unter zweien hindurch. Ijugis fing eine mit der rechten Hand aus ihrer Bahn und schleuderte sie nach einer vollständigen Drehung zurück ins verdorrte Unterholz. Rodraeg wurde von Bestar beseitegezerrt, sodass eine der Ãxte an seiner linken Schulter vorbeizischte. Er konnte dabei sehen, dass die Klinge dieser Waffe nicht aus Metall und Feuer geschmiedet, sondern aus Feuerstein gehauen war. Ukas wurde als Einziger getroffen, eine der Beilklingen fraà sich in seinen rechten Oberschenkel, aber das schien den Hünen wenig zu beeindrucken. Geduckt und lauernd streifte er sich seine Stachelhandschuhe über.
In diesen Augenblicken war Rodraeg immer noch nicht wirklich bei sich, immer noch weit entfernt von dieser Situation. Er hatte Timbare sterben gesehen, ihrer aller Anführer, den einzigen Sinn und Anlass ihres Hierseins, und er fand es recht einleuchtend, dass sie jetzt alle â und besonders er selbst â hier sterben mussten. Was wollten sie denn in diesem dürstenden Wald? Was hatten sie hier zu suchen? Weshalb war er nicht einfach hinter seinem Kuellener Schreibstubenpult geblieben und hatte weiterhin wackelige Gedichte für die Versbüchlein alleinstehender Wirtinnen verfasst?
Aber bereits den Bruchteil eines Sandstriches später, als das Unterholz ringsherum zu detonieren schien und fünfzig, sechzig, siebzig oder achtzig Spinnenmenschen nackt und heulend und mit fuchtelnden Klingenwaffen angekrabbelt kamen, um sie alle ebenso niederzumachen wie die wehrlosen Gataten, die beim Berg Zuflucht gesucht hatten, regte sich etwas anderes in ihm: Wut. Er fühlte sich ungerecht behandelt. Denn schlieÃlich waren sie ja nicht als Schatzfinder hierhergekommen, nicht, um
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