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Die Vergangenheit des Regens

Titel: Die Vergangenheit des Regens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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vorherigen Mitglieder gefallen waren. Aber hatte nicht auch Rodraeg in dieser Reihenfolge Migal, Hellas und Eljazokad verloren? Was erhob ihn denn über Ijugis, Anführer einer Gruppe, die es auch noch nicht viel länger gab als das Mammut , die jedoch – so schien es Rodraeg zumindest – in ihrem kurzen Dasein bereits ungleich mehr erlebt und bewirkt hatte als das Mammut ? Aber stimmte das überhaupt? Konnte man noch mehr erleben innerhalb nur eines einzigen Jahres als eine Schwarzwachssklaverei, einen Werwolf, die Stadt der strandenden Wale, die Höhle des Alten Königs und das daraus geborgene Zepter, die Brücke der brennenden Blumen und die daran angrenzende vollkommen andere Welt, deren Ursprung ein Foltertisch gewesen war? Die unerbittlichen Nachstellungen des Mannes, der nicht geboren wurde , die Vertreibung aus Warchaim – und nun dies hier? Der tiefste Süden. Der trockenste Wald. Die größtmögliche Entfernung zu jeglicher Zivilisation. Zur Menschlichkeit. Zur Menschheit. Zum Menschsein. Affenmenschsein. Untergrundmenschsein. Spinnenmenschsein. Dürre und Blut und das Sterben der Augen. Ein Ei, das von drei sich in der Mitte kreuzenden Linien durchschnitten wurde. Uikoe: vermutlich der Name des Gataten, der versklavt die Wale herbeisingen musste. Ettú und Oobo: die Köpfe der Schutzgeister auf Schreibtischen und aus Bäumen hervorwuchernd. Miweme blaibt.
    Â»Miweme!«, rief Rodraeg plötzlich und noch mal mit so lauter Stimme wie ihm überhaupt möglich: »Miweme! Miweme!« Doch an diesem Ort, an dem Regentropfen kostbarer gewesen wären als Gold, waren Worte wertloser als Staub. Sie fanden einfach kein Gehör. Das Röhren und Kreischen der Tötenden und Sterbenden überrauschte alles.
    Rodraeg fand sich, wie er Kinjo von Timbare herunterzerrte, um selbst an das Testament des Schatzfinders zu gelangen. Ein Spinnenmensch sprang ihn dabei an. Tjarka trennte ihn, als dieser an ihr vorüberglitt, mit ihrem Messer auf wie einen durchgebratenen Fisch. Dann war Bestar heran und erledigte den Rest. Rodraeg suchte und fand das Pergament, während zwei weitere Eingeborene zähnefletschend und nach Pfeilgift riechend herankamen und getötet wurden.
    Â»Sie haben ihr eigenes Gift getrunken«, keuchte Bestar, dessen Erzschwert rot dampfte. »Sie sind wahnsinnig geworden!«
    Rodraeg fühlte das Pergament zwischen den Fingern, so dünn, dass es ihm wie Wasser hindurchrann, und dennoch hielt und entfaltete er es. Dann las er: »Masudi Momolu Dituma Miweme Mamodimi Sumotuwe Dilumame Mamamosudimidi Sumomomotuwelu Didilutumamema. Masudi Momolu Dituma Miweme Mamodimi Sumotuwe Dilumame Mamamosudimidi Sumomomotuwelu Didilutumamema. Masudi Momolu Dituma Miweme Mamodimi Sumotuwe Dilumame Mamamosudimidi Sumomomotuwelu Didilutumamema.« Immer eindringlicher wurde seine Stimme, immer sicherer fand er sich in den Silben zurecht. Er war Rathausschreiber gewesen – wenn er eines wirklich gut konnte, dann Schreiben und Lesen.
    Aber niemand beachtete ihn. Die Schlacht tobte unvermindert weiter. Noch immer krabbelte Nachschub durchs Dickicht heran. Ukas lag mittlerweile am Boden. Es sah aus, als würden ihn die Kenekenkelu bei lebendigem Leibe auffressen. Auch der Erleuchtete war mit Feinden behängt wie die Straßen Warchaims am Tage des Bachmufestes mit Girlanden. Migal jedoch behauptete sich, obwohl seine Beine ziemlich zerfleischt aussahen. Tjarka stach gerade einen wild zappelnden Nackten nieder. Bestar hielt ihr den Rücken frei gegen einen zweiten, der mit wirbelnden Armen durch die Luft sprang, nur um sich auf Skergatlu aufzuspießen.
    Rodraeg ließ das Pergament sinken. Worte waren nicht der Weg. Worte waren fast überall und immer von Nutzen, aber nicht hier, und wahrscheinlich auch nicht auf dem Affenmenschenfeldzug. Dieser Wald forderte das Töten. Wenn er schon kein Wasser zu saufen bekam, schrie er stattdessen nach Blut. Bekam er keine Wolken, verlangte ihn nach Menschen. Die Kenekenkelu hatten das begriffen. Sie waren nicht dümmer, primitiver oder wahnsinniger als Rodraeg und die anderen Fremden – sie waren einfach weniger sentimental. Sie hatten dem allesverzehrenden Durst mitten ins Gesicht geblickt und versuchten ihn zu stillen.
    Rodraeg versuchte innerhalb weniger Augenblicke, diesen Gedanken in seiner Gesamtheit zu umfassen. Er spürte, wie sein eigenes Gehirn dabei zu kreischen begann, aber er

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