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Die Vergangenheit des Regens

Titel: Die Vergangenheit des Regens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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nach allem, was ihm zu nahe kam. Beinahe traf er Bestar, doch dieser wehrte den Streich ab und stellte sich über die beiden, bis dieser Teil des Feldes beruhigt war.
    Rodraeg erwog die Entfernungen zu den übrigen weißen Inseln im schwarzen Gewoge. Der Erleuchtete war am weitesten weg und sah auch aus, als wäre er ohnehin nicht mehr zu retten. Tegden, nur unwesentlich näher, behauptete sich bedeutend besser. Onouk und Ijugis waren die Einzigen, die keinen Stützpunkt im Strudel bildeten, sondern sich nach wie vor aus eigener Kraft bewegten. Es war möglich, abzuwarten und sie abzupassen, wenn sie wieder einmal näher kamen auf ihrer Bahn, die der eines Himmelskörpers nachempfunden sein mochte. Rodraeg wandte sich um, während Bestar ihn abschirmte. Kinjo war wehrlos da hinten, doch dort rührten sich auch keine Kenekenkelu mehr. Das logischste aller Ziele war also Migal. Er war allein, nicht viel weiter entfernt als Onouk und Ijugis, er war schwer verwundet, er war einer von ihnen gewesen, Bestars bester Freund, beinahe sein Bruder, in einer Zeit, die weit entfernt schien wie eine andere Ära und doch in Wirklichkeit kaum die Schwangerschaft eines Schmetterlingsmädchens überdauerte.
    Â»Zu Migal!«, ordnete Rodraeg an, und Bestar nickte wild. Tjarka schloss die Lücke. Ein Gespann, das hervorragend funktionierte. In keiner der bisherigen Konstellationen des Mammuts hatte Rodraeg eine derartige Harmonie feststellen können. Möglicherweise hing das damit zusammen, dass zwischen ihnen dreien die Abfolge eindeutig geordnet war. Bestar vertraute ihm, weshalb auch immer, und Tjarka vertraute Bestar, weil dieser sie bislang noch nie enttäuscht hatte.
    So fochten sie sich zu Migal durch. Und dort veränderte und erweiterte sich die Konstellation. Bestar und Migal, die beiden Klippenwälder aus Taggaran, verschmolzen zu einer seit Kindesbeinen eingeübten Einheit. Rücken an Rücken rotierten sie und machten alles nieder, was sich ihnen in den Weg warf. Migals Beine sahen zerfleischt aus, als wäre er durch einen Fluss voller Raubfische gewatet, aber in Gegenwart von Bestar und Rodraeg siegte sein Stolz über den Schmerz und die tatsächliche Versehrung.
    Zu viert drangen sie durch zu Onouk und Ijugis, und dann endete die Schlacht so plötzlich, wie sie begonnen hatte. Es war, als hätten sie sich die ganze Zeit über durch eine Mauer aus Fleisch und Sehnen gehackt und stolperten nun auf der anderen Seite unversehens ins Freie. Auf ein geheimes, für dschungelfremde Ohren unhörbares Signal hin stellten die Eingeborenen ihre Kampfhandlungen ein. Die überlebenden Kenekenkelu – es mochten zwanzig von insgesamt hundert oder hundertundfünfzig sein – krochen, robbten, schlüpften, krallten, huschten in den Urwald zurück, so schnell ihre Verletzungen es ihnen gestatteten. Nur wenige Verwundete blieben zurück, alle anderen waren tot. Aber auch diese Verwundeten lebten nur noch einen oder zwei Sandstriche. Bestar hatte wohl recht gehabt. Die Kenekenkelu hatten sich mit ihrem eigenen Gift überdosiert.
    Rodraeg war verwundert, dass sich überhaupt einige von ihnen lebend zurückgezogen hatten. Während der letzten Sandstriche war ihm die Schlacht wie ein einziger großer Opfergang vorgekommen. Wie die rituelle Selbstauslöschung und dadurch Seelenreinigung eines gesamten Volkes.
    Wie Wale, die sich auf einen Strand und eine Pfahlstadt warfen, um zu ersticken und vom Gewicht ihrer eigenen Leiber erdrückt zu werden.
    Wie die Kruhnskrieger, die einem einmal gegebenen Befehl folgten und Widerstand leisteten, während ringsumher alles in Trümmer ging.
    Wie Riesen, die sich in einen Berg zurückzogen, um im Laufe von Jahrhunderten langsam auszusterben.
    Wie die zerlumpten Bittsteller, die sich auf das Zepter des Alten Königs gestürzt hatten, um Erfüllung zu finden oder den Tod.
    Wie die Fleischfliegen und die wiederauferstandenen Toten, die dasselbe versucht hatten, angezogen vom magischen Leuchtfeuer des Zepters und geradezu begierig, der eigenen unbeträchtlichen Existenz ein Ende zu setzen.
    Wie Ameisen, die ihre unterirdischen Paläste im Stich ließen, um angesichts des Wassermangels ihren Untergang im Kampf zu suchen.
    Wie Mammuts, die es nun nicht mehr gab, weshalb auch immer.
    Die Schlacht am Fuße des Temé-Béku war vorüber. Mehr als hundert neue dunkelhäutige Leichname lagen in allen

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