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Die Vergangenheit des Regens

Titel: Die Vergangenheit des Regens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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versuchte, dieses Kreischen in eine sinnstiftende Erkenntnis zu überführen.
    Anders als in einer Stadt fraßen im Wald alle Lebewesen einander auf.
    Anders als in der Welt der Menschen war Fleisch hier nicht nur der Träger von Seele, sondern auch ein Stiller von Hunger.
    Wasser und Blut waren wertvoller als Gold. Edelsteine dienten lediglich dazu, dumme weiße Menschen anzulocken, damit diese die Kräfte des Waldes freisetzen konnten. Ameisen reinigten, indem sie alles zerteilten und mit sich nahmen. Auch sie waren nun Ameisen. Von oben betrachtet. Ameisen. Zerteiler. Durchdringer. Fortzerrer. Geschöpfe, die ein Vielfaches ihres eigenen Körpergewichtes zu tragen imstande waren.
    Es war nicht nur – das wurde Rodraeg jetzt klar – ungerecht und verantwortungslos, das Töten von den anderen erledigen zu lassen. Von Bestar und Tjarka. Es war sogar grundlegend falsch. Warum Tjarka? Sie war doch noch ein Kind, genauso jung wie Naenn. War sie nicht hier, weil sie ihm, Rodraeg, folgte? Ihm und seinen Ideen? Warum also stellte nicht er sich vor sie und verteidigte sie mit seinem Leben, wie in den schönen Rittergeschichten seiner Kindheit das immer die Männer angesichts von Frauen getan hatten? Es war ein viel zu hohes Ross, hier waffenlos zu bleiben. Das konnte sich Rodraeg in Kuellen erlauben unter Schreibstubenknechten und Maulwurfshügelbekämpfern, aber nicht als Anführer des Mammuts , im Wald, der das Weinen verlernte, im Schatten des trunkenen Berges, im Angesicht einer feindseligen Übermacht.
    Er zog das Langmesser, das der Erleuchtete ihm geliehen hatte.
    Er hatte sich geschworen, nie wieder eine Waffe zu führen. Nach dem Köpfen des Kindes, das sein Vorgesetzter gewesen war, hatte er sich dies geschworen und seine Klinge stecken lassen im kalten Morgenlicht am Larnus.
    Doch die Klinge kehrte stets wieder, in mannigfaltiger Form, sei es aus Stahl, aus Erz, aus Feuerstein oder aus Zähnen.
    Rodraeg hatte Fechten gelernt als Jüngling in der Schule. Sein Onkel, der ein Abenteurer war, hatte ihm Tricks beigebracht. Noch als Schreiber in Kuellen war Rodraeg alle paar Tage in den Larnwald gegangen, um mit dem Säbel seines Onkels zu üben und körperlich in Form zu bleiben.
    Dann war dieser Säbel ihm gestohlen worden. Der Dieb, Ryot Melron, hatte ihm dafür ein Schwert hinterlassen, das viel zu lang und umständlich war, um es jemals richtig führen zu können. Naenn hatte er beschützen sollen mit diesem lang gedehnten Ding, doch Naenn war nun für ihn verloren, auf ihren kleinen Flügeln fortgeflogen in den Märchenhain der Schmetterlinge.
    Das Langmesser lag gut in der Hand.
    Und Rodraeg Talavessa Delbane begann das Töten.
    Er hieb nach links und nach rechts, fand Fleisch und Knochen, brüllte durch Speichel sprühende Zähne und drang weiter vor. Bestar schloss an seine linke Flanke auf, Tjarka an seine rechte.
    Die Schlacht wogte weiter als Ameisengewimmel. Überall Gliedmaßen, zuckender Stahl, spritzendes Blut, verzerrtes Gesicht, verschmierte Bemalung, aufgewühlte Erde, Haar, Kleider in Fetzen, Geschrei wie Gelächter, Bewegung, Verringerung, Tollwut. Der Duft von aufgebrochenem Fruchtfleisch.
    Mit dem Eintreten der drei vom Mammut in das eigentliche Kampfgeschehen änderten sich Richtungen und Verhältnisse. Rodraeg war geschickt und fintenreich, er parierte auch, was die Gegner überhaupt nicht begriffen, und nutzte deren Unverständnis dann zu seinem eigenen Vorteil. Tjarka war schnell und wendig, beinahe unmöglich auszurechnen und zu treffen. Ihr altes, treues Thostwaldmesser war wie ein Insektenstachel, der böse Fragen stellte. Bestar jedoch war eine Klasse für sich. In Verbindung mit dem Erzschwert Skergatlu stellte er eine Macht dar, der sich in dieser Form noch nie jemand auf diesem Kontinent hatte stellen müssen. Innerhalb eines einzigen Sandstriches hatte Bestar an die zwanzig Ameisenmenschen erschlagen, Tjarka sechs, Rodraeg vier. Sie arbeiteten sich voran, ohne in Wut zu geraten. Rodraeg begriff: Hatte man das Töten erst einmal als Notwendigkeit akzeptiert, dann ging es auch nicht schwieriger von der Hand als Händewaschen oder ein Gefährt lenken.
    Zuerst schlossen sie zu Jacomer und Ukas auf. Ukas war kaum noch als Mensch zu erkennen, aber vieles von dem, was dort lag, mochte nicht ihm gehören. Jacomer verteidigte ihn immer noch wie ein kreischender Kreisel, hieb und trat

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