Die vergessene Frau
Dass sie, die früher rund um die Uhr zu tun hatte, die ständig von Menschen umgeben war und im Mittelpunkt gestanden hatte, nun leere Wochen mit endlosen Stunden ohne jede Beschäftigung durchleben musste, machte ihr schwer zu schaffen.
Es vergingen ganze Tage, an denen sie mit niemandem außer ihren Angestellten sprach. Sie versuchte sich mit ihnen anzufreunden, aber der Graben zwischen Bediensteten und Herrschaft war zu tief. Manchmal hörte sie die Zimmermädchen miteinander lachen und beneidete sie beinahe um ihre Freiheit. Als sie damals in London ihr Geld mit Putzen verdient hatte, war ihr nie bewusst gewesen, wie wertvoll diese Freiheit war.
Etwas in ihr sagte ihr, dass sie für sich einstehen sollte, dass sie ihr Leben wieder in die Hand nehmen musste – hatte sie das nicht immer so getan? Doch in letzter Zeit hatte sie ihr Kampfgeist verlassen. Dass sie nachts so schlecht schlief, machte die Sache nicht einfacher. Sie wusste nicht warum – vielleicht weil Max so oft unterwegs war und sie so ungern allein schlief. Jedenfalls war sie immer müde und erschöpft, so als fehlte ihr jede Energie. Und manchmal war sie auch ein bisschen durcheinander und vergesslich – und reagierte viel zu emotional. Irgendwie war sie nicht mehr sie selbst. Manchmal fragte sie sich, was eigentlich mit ihr los war.
Sie sah auf die Einfahrt und stellte fest, dass Gabriels Wagen weg war. Max’ Kinder waren während der Osterferien auf Stanhope Castle, Franny hatte sie allerdings bisher kaum zu Gesicht bekommen. Während der letzten Monate schienen die beiden sie halbwegs akzeptiert zu haben, aber sie waren jung und meist unterwegs. Gabriel hatte Freunde in L.A., die er gern besuchte, und heute Morgen war er, mit Olivia im Schlepptau, losgefahren, um das Wochenende in Max’ Villa in Holmby Hills zu verbringen. Olivia war eigentlich zu jung, um allein auswärts zu übernachten, doch Franny hatte Max überredet, sie mitfahren zu lassen, und ihm versichert, dass Gabriel vielleicht ein Draufgänger, aber auch vernünftig und durchaus in der Lage war, auf seine Schwester aufzupassen. Franny wusste, dass es nur richtig war, die beiden Kinder fahren zu lassen, dadurch blieb sie allerdings wieder einmal allein zurück.
Sie seufzte auf und spazierte weiter. Obwohl sie so in ihre Gedanken vertieft war, dass sie kaum auf ihre Umgebung achtete, fiel ihr, als sie an einem Beet vorbeikam, eine ungewöhnlich prächtige Blüte auf. Sie leuchtete in tiefen orangefarbenen und roten Schattierungen. Franny sah in der Nähe einen der Gärtner, rief ihn herbei und fragte ihn, wie die Blume hieß.
»Das ist eine Taglilie, Madam«, sagte er. Der gutaussehende junge Schwarze gehörte zu der fünfköpfigen Mannschaft, die für die Gärten verantwortlich war.
Sie beugte sich hinunter und strich über die samtigen Blütenblätter. »Sie ist so makellos.«
»Jede Blume blüht nur einen einzigen Tag«, erklärte er ihr. »Die Blüte öffnet sich bei Sonnenaufgang, und bei Sonnenuntergang verwelkt sie und stirbt.«
Irgendwie rührte Franny das Schicksal der wunderschönen Taglilie. Sie lächelte den jungen Gärtner an. Nachdem Max wieder einmal unterwegs war, war dies ihr erstes Gespräch seit Tagen.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie.
»Leonard, Mrs Stanhope.«
»Ach, bitte nicht so förmlich.« Sie lächelte ihn an. »Nennen Sie mich Franny.«
»Ich gehe jetzt los. Kommst du mit?«
In der Villa in Holmby Hills stand Gabriel, den Autoschlüssel in der Hand, in der Tür zum Zimmer seiner Schwester.
»Danke, aber ich glaube, ich passe«, erklärte sie ihm. »Ich bleibe lieber hier und gehe früh zu Bett. Die Fahrt hat mich ziemlich müde gemacht.«
Gabriel sah seine Schwester kritisch an. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn anschwindelte – er hatte seinen Vater oft genug belogen, um so etwas zu erkennen. Seit Weihnachten hatte Olivia jede Gelegenheit genutzt, um mit ihm zusammen nach L.A. zu fahren. Sein Vater und Franny glaubten, dass Olivia mit ihm und seinen Freunden unterwegs war, wenn sie in der Stadt waren, aber tatsächlich fand sie immer einen Vorwand, um alleine auszugehen. Gabriel hatte keine Ahnung, was sie trieb. Immer wenn er sie fragte, was sie unternehmen oder wen sie treffen wollte, behauptete sie, sie würde eine Schulfreundin besuchen. Gabriel glaubte ihr kein Wort. Er hielt es für wahrscheinlicher, dass sie sich mit einem Mann traf. Nicht mit Brett, das stand fest; seit ihrem sechzehnten Geburtstag schien Olivia jedes
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