Die vergessene Frau
und die Gummistiefel an und ging nach unten, um nachzusehen. Aber die Küche war genauso aufgeräumt und sauber wie gestern Abend, als sie ins Bett gegangen war, und in dem kleinen Gemüsegarten war niemand zu sehen. Die Tür des Klohäuschens schwang leise im Wind und verriet, dass auch niemand auf dem Abort war. Daraus schloss Cara, dass ihre Großmutter nur an einem Fleck sein konnte, und ging wieder ins Haus und nach oben.
Vor Theresas Schlafzimmertür blieb sie stehen. Ihr Herz hämmerte so schnell, dass es in der Stille des schmalen Treppenaufgangs zu dröhnen schien. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Einerseits war ihre Großmutter gern für sich alleine und konnte wütend werden, wenn Cara in ihr Zimmer kam; andererseits war Sonntag, und Theresa würde die Messe verpassen, wenn sie nicht aufstand, und dann wäre sie noch wütender. Sie hatte keine Wahl, beschloss Cara; sie musste hineingehen und ihre Großmutter aufwecken. Sie holte tief Luft und griff nach der Klinke.
Der Gestank schlug ihr entgegen, sobald sie die Tür aufdrückte.
»O Gott.«
Instinktiv wich sie zurück und schlug die Hand über Mund und Nase. Doch damit ließ sich der Geruch nicht abhalten; der faulige Gestank war einfach zu stark. Ihr Instinkt befahl ihr, so weit wie möglich zu fliehen. Sie wollte gerade in den Flur zurücktreten, als sie aus dem Bett ein schwaches Rufen hörte.
»Franny? Bist du das?«
Cara erstarrte.
»Franny?« Wieder die Stimme, diesmal ein bisschen flehentlicher.
Cara fällte eine Entscheidung. »Ja, ich bin’s … Franny.« Das war einfacher, als zu streiten. Sie trat ans Bett und sah ihre Großmutter darin liegen, mit weit aufgerissenen Augen und schwach und verängstigt wie ein kleines Kind.
»Ich glaube, mir ist ein Malheur passiert.«
Cara schloss die Augen. Ihr ekelte schrecklich vor dem, was sie jetzt tun musste. Aber außer ihr war niemand hier. Sie konnte noch so lange warten, es würde ihr niemand zu Hilfe kommen.
Weil sie die alte Dame nicht wissen lassen wollte, wie sehr es ihr graute, rang sich die Elfjährige ein Lächeln ab. »Das ist doch nicht so schlimm.« Sie beugte sich über das Bett, damit ihre Großmutter sie erreichen konnte. »Hier, leg deine Arme um meinen Hals, dann ziehe ich dich hoch.«
Ihre Großmutter sauber zu machen war das Schlimmste, was sie je tun musste. Cara versuchte, möglichst nicht daran zu denken, was sie da tat, während sie Theresa aus ihrem verdreckten Nachthemd half. Doch als sie die alte Frau nackt, runzlig und bibbernd im Zimmer stehen sah, riss sich Cara schlagartig zusammen. So schwer ihr das alles auch fiel, für ihre Gran war es ganz bestimmt noch schlimmer.
Diese Erkenntnis machte es ihr ein bisschen einfacher. An der Spüle reinigte sie ihre Großmutter mit einem Schwamm und half ihr dann in die Badewanne, genau wie Theresa ihr damals geholfen hatte, als sie in Brighton krank geworden war. Während ihre Gran in der gusseisernen Wanne saß, zog Cara schnell das Bett ab und weichte das schmutzige Bettzeug mitsamt dem Nachthemd draußen in einem Waschtrog ein. Anschließend säuberte sie ihre Großmutter vorsichtig mit einem Schwamm. Nachdem sie frische Laken aufgezogen, den Raum gelüftet und Theresa in ein frisches Nachthemd gesteckt hatte, brachte sie die alte Frau wieder ins Bett.
Erleichtert, dass alles ausgestanden war, trat Cara einen Schritt zurück. Jetzt, wo ihre Großmutter wieder im Bett war, konnte sie sich selbst sauber machen und danach das Frühstück zubereiten.
»So ist es schon besser, nicht wahr?«
Ihre Gran sah sie mit leeren Augen an. »Wer bist du? Was tust du in meinem Haus?«
Cara schloss die Augen und gab sich Mühe, nicht zu weinen.
Es wurde immer schlimmer, nicht besser, und sie wusste nicht, was sie noch tun sollte. Sie hatte niemanden, mit dem sie reden konnte, keinen Freund oder Verwandten, den sie anrufen konnte, keinen freundlichen Nachbarn, der ihr beistand. Ihrer Mutter wollte sie nicht schreiben, wie verzweifelt sie war, denn sie war sicher, dass ihrer Mutter das egal war. Sie konnte nur hoffen, dass sich ihre Großmutter irgendwann erholen würde.
Kapitel 26
April 1958
»Ich habe Ihre Ergebnisse bekommen.« Dr. Robertson tippte auf den vor ihm liegenden braunen Umschlag, als wollte er beweisen, dass er sich das nicht ausgedacht hatte. »Und ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie nicht schwanger sind.«
Franny nahm die Neuigkeit resigniert hin. Sie war enttäuscht, aber nicht überrascht. Nicht
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