Die vergessene Frau
Interesse an ihm verloren zu haben. Es war jemand anderes, jemand, den er nicht kannte. Und Gabriel wusste nicht so recht, was er davon halten sollte.
Ihr Vater glaubte natürlich, dass er Olivia in L. A. unter seine Fittiche nahm – andernfalls hätte er seiner Schwester bestimmt nicht gestattet, ihn zu begleiten. Wenn Max gewusst hätte, was sich hier wirklich abspielte, hätte er Olivia auf keinen Fall mitfahren lassen. Gabriel hatte ein schlechtes Gewissen, weil er seinen Vater und seine Stiefmutter belog. Aber was sollte schon passieren?, dachte er sich. Olivia war ein kluges Mädchen; sie würde bestimmt nicht in Schwierigkeiten kommen.
Mit diesem Gedanken ging er aus dem Haus und überließ seine Schwester sich selbst.
Je weiter der Frühling voranschritt, desto mehr Zeit verbrachte Franny im Garten und damit auch mit ihrem Gärtner. Leonard war intelligent und einfühlsam, und, was am wichtigsten war, er hatte Zeit für sie. Sie erkundigte sich nach seinen persönlichen Zielen und erfuhr, dass er sein Glück als Musiker versuchen wollte. Er war von Harlem nach L. A. gezogen, um im Showbusiness Fuß zu fassen, aber das hatte nicht funktioniert, und so hatte er sich gezwungen gesehen, stattdessen diesen Job in Stanhope Castle anzunehmen. Franny konnte ihm sein Elend nachfühlen und hörte sich versprechen, sie würde ihn mit ein paar ihrer Bekannten aus der Musikbranche in Verbindung bringen.
Er freute sich sichtlich über ihr Angebot. »Wenn Sie das für mich machen könnten, Miz Franny, wäre das einfach wunderbar.«
Franny freute sich wiederum, weil er so dankbar war. In letzter Zeit interessierte sich niemand mehr für das, was sie tat; es war gut zu wissen, dass sie wenigstens irgendjemandem behilflich sein konnte.
Eines Morgens stand sie im Treibhaus auf einer Trittleiter und streckte sich nach einer Hängepflanze, einem Harfenstrauch. Sie wollte einen Ableger schneiden und ihn eintopfen, um festzustellen, ob er Wurzeln trieb. Die Pflanze hing so weit oben, dass Franny sie nicht einmal von der Trittleiter aus erreichte. Als sie sich noch höher reckte, kam die Leiter leicht ins Wanken. Eigentlich hätte sie in diesem Moment innehalten und jemanden vom Personal bitten sollen, den Trieb für sie abzuschneiden, doch sie war ihrem Ziel schon so nahe, dass sie beschloss, einen letzten Versuch zu unternehmen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, streckte die Schere nach oben und schaffte es tatsächlich, den gewünschten Trieb zu kappen, nur brachte sie dadurch die Leiter aus der Balance. Sie bebte und wackelte und schwankte hin und her. Franny versuchte sich festzuhalten, aber es war zu spät, und sie kippte zur Seite.
Zum Glück trat genau in diesem Augenblick Leonard in das Treibhaus. Er sah die Leiter gefährlich schwanken, ließ den Düngersack fallen, den er getragen hatte, kam angelaufen und schaffte es, Franny noch im Fallen aufzufangen.
Sie fand sich atemlos in Leonards Armen wieder. Seine Hände umklammerten ihre Taille und hielten sie fest; sie hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen.
»Alles in Ordnung, Miz Franny?«
»I-ich glaube schon«, antwortete sie zittrig.
Sie hob das Gesicht, sah seine fürsorgliche Miene und merkte, wie dankbar sie ihm war. Zum ersten Mal seit Langem hatte sie das Gefühl, dass sie jemandem etwas bedeutete.
Sie hob eine Hand und strich über seine Wange. »Danke, dass Sie mich gerettet haben.«
Ein leises Räuspern zerschnitt die Stille. Beide schreckten zurück. Franny drehte sich um, mit hochrotem Kopf und schlechtem Gewissen. Hinter ihnen stand Hilda, die sie mit unverhohlener Missbilligung beobachtete.
»Ich wollte nur sagen, dass da ein Anruf für Sie ist, Mrs Stanhope.«
Franny strich sich die Haare glatt und versuchte sich ganz natürlich zu geben. »Ja, natürlich, ich komme sofort.«
Ohne Leonards Blick zu erwidern, eilte sie aus dem Treibhaus.
Eine Woche später kam Lily sie besuchen. Es war ein so schöner Tag, dass Franny vorschlug, sich in den Garten zu setzen. Die Haushaltshilfen tuschelten im Vorbeigehen.
Franny sah ihnen stirnrunzelnd nach. »Ich wüsste zu gern, was los ist.«
Lily schaute sie von der Seite an. »Ich kann es mir vorstellen.«
»Was denn?«
Ihre Freundin holte eine Ausgabe der Confidential aus der Handtasche und reichte sie Franny. Als Franny ihren Namen auf dem Titelblatt las, überkam sie schlagartig eine tiefe Müdigkeit. Trotzdem kam sie zu dem Schluss, dass sie lieber wissen wollte, was über sie
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