Die vergessene Frau
würde die Schlafzimmertür zugezogen. Doch auch wenn es so aussah, als wäre James gegangen, kam sie nicht aus ihrem Versteck, aus Angst, dass er ihr vor der Tür auflauern könnte. Stattdessen richtete sie sich darauf ein, die Nacht im Bad zu verbringen. Sie machte es sich so gemütlich wie möglich, indem sie auf der Badematte schlief, um nicht auf dem kalten Marmorboden liegen zu müssen. Das war zwar nicht annähernd so gemütlich wie das Bett, in dem sie vorhin gelegen hatte, aber sie war an die dünnen Matratzen im Waisenhaus gewöhnt: Eine Nacht würde sie schon durchhalten.
Anfangs war sie zu verängstigt, um einzuschlafen, weil sie befürchtete, James könnte doch noch zu ihr ins Bad kommen. Stattdessen dachte sie an Niamh. Nun war ihr klar, was ihrer Freundin passiert war. Auch sie war James Buchanans Angriffen ausgesetzt gewesen, aber leider war sie ihm nicht so glücklich entkommen. Immerhin konnte Cara jetzt, wo sie die ganze Geschichte kannte, endlich etwas unternehmen.
Am nächsten Morgen kam Cara erst aus dem Bad, als sie überzeugt war, dass alle im Haus schon aufgestanden waren. Sie ging in ihren eigenen Sachen zum Frühstück, das in einem wunderschönen Raum mit breiter Fensterfront auf den See serviert wurde. Virginia und James saßen schon am Tisch. Virginia begrüßte sie überschwänglich und ahnte offensichtlich nichts von dem, was sich in der vergangenen Nacht abgespielt hatte. James lächelte ebenfalls gut gelaunt, aber Cara fand seine Fröhlichkeit gespielt. Die Köchin trug ein komplettes irisches Frühstück mit Blutwurst und in der Pfanne ausgebratenem Toast auf. Alles duftete himmlisch, doch Cara brachte keinen Bissen herunter.
Virginia bemerkte das und sah sie besorgt an. »Hast du keinen Hunger? Fühlst du dich vielleicht nicht gut?« Sie stand auf und legte die Hand auf Caras Stirn, so wie es Schwester Agnes am Vortag bei Niamh getan hatte. »Heiß bist du nicht.«
Cara hatte sich eigentlich krank stellen wollen, um einen Vorwand zu haben, ins Waisenhaus zurückzukehren. Jetzt begriff sie, dass ihr dieser Weg versperrt blieb, und sagte widerstrebend: »Es geht mir gut.«
Virginia erstrahlte. »Wunderbar. Und was würdest du heute gern unternehmen?«
»Ist mir egal.« Cara überlegte fieberhaft, wie sie aus dem Haus gelangen konnte, bevor es wieder dunkel wurde.
»Warum gehen wir nicht hinaus zu den Pferden? Ich gehe nur schnell nach oben und ziehe mich um.«
Weil Cara keinesfalls mit James allein bleiben wollte, folgte sie ihr aus dem Zimmer. Bevor sie durch die Tür ging, fing sie James’ hasserfüllten Blick auf und begriff, dass sie um jeden Preis noch heute entkommen musste. Während sie Virginia durch den Flur folgte, fiel ihr eine zauberhafte weiß-blaue Porzellankanne auf, die auf einem Beistelltisch stand. Ihr kam eine Idee.
»Die gefällt mir«, sagte sie und nahm sie in die Hand.
»Oh, damit musst du aufpassen«, warnte Virginia sie. »Die hat mir meine Mutter hinterlassen.«
Das bestätigte alles, was Cara wissen musste. Sie entschuldigte sich im Stillen bei der armen, ahnungslosen Virginia und ließ die Porzellankanne durch ihre Finger gleiten.
»Nein!«, rief Virginia und stürzte auf sie zu.
Aber sie kam zu spät. Entsetzt musste sie zusehen, wie das Schmuckstück auf dem Boden zerschellte. Und dann begann Cara höhnisch zu lachen.
Es wurde beschlossen, dass Cara augenblicklich ins Waisenhaus zurückkehren sollte. Virginia war zu aufgewühlt, um mit ihr zu fahren, und sie beschwor James, mit ihr zu Hause zu bleiben. Cara sah ihm an, wie wütend er war. Sie nahm an, dass er gern mit ihr allein gewesen wäre, um sie warnen zu können, nichts auszuplaudern. Doch Virginia ließ sich nicht umstimmen, und so wurde Cara allein mit dem Fahrer zurückgeschickt. Man hatte ihm einen Brief mitgegeben, in dem die Ereignisse dieses Morgens geschildert und Caras verfrühte Abreise erklärt wurden. Dummerweise für Cara nahm ausgerechnet Schwester Concepta den Brief in Empfang.
Die Nonne war so begeistert, ihre Meinung über das Mädchen bestätigt zu sehen, dass sie ausnahmsweise kein Interesse daran zeigte, Cara zu bestrafen. Auch Cara war es gleichgültig, welche Konsequenzen ihr Verhalten haben würde. Jetzt, wo sie über James Buchanan Bescheid wusste, wollte sie unbedingt mit Niamh sprechen.
Oben im Schlafsaal saß Niamh auf ihrem Bett und wartete ängstlich auf sie. Sobald sie Cara sah, kam sie auf ihre Freundin zugelaufen.
»Was ist passiert?«, wollte sie
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