Die vergessene Frau
sich gezwungen, arbeiten zu gehen. Geld war Geld. Das sagte sich Cara jeden Abend, jeden demütigenden Abend. Sie verdiente damit ihren Lebensunterhalt und brauchte sich dessen nicht zu schämen. Trotzdem gab es Tage, an denen ihr, so wie heute, alles zu viel wurde.
Cara öffnete die Tür. Als sie eintrat, verschlug ihr der Geruch nach Haarlack und billigem Parfüm den Atem.
»Wenn sich noch ein einziger Kerl an meinem Bein reibt …«, murrte Cara und ließ sich auf den Hocker vor einem alten Schminktisch fallen.
In der Garderobe waren außer ihr drei andere Bardamen, die gerade Pause machten oder sich nach einem Besuch im Hinterzimmer auffrischten. Als sie Caras Beschwerde hörten, lachten sie wissend.
»Gib ihm einen Klaps auf die Schnauze«, riet ihr Denise Brown, eine Veteranin. »Bei meinem Hund wirkt das fast immer.«
»Ich schwöre dir, da bleibt es nicht bei einem Klaps.«
Denise lachte wieder. »Warte nur, bis du so lange hier bist wie ich, Entchen. Glaub mir, bis dahin freust du dich, wenn dir einer so viel Aufmerksamkeit schenkt.«
Die anderen stimmten in ihr Lachen ein. Aber Cara starrte die ältere Frau entsetzt an und merkte, wie sie in Schwermut versank. Denise Brown war Mitte vierzig. Ihr Mann saß im Gefängnis und hatte gerade die Hälfte seiner achtzehn Jahre für bewaffneten Raubüberfall abgesessen. Seither arbeitete Denise im Flirt, damit ihre Kinder ein Dach über dem Kopf hatten. Mit ihrem gefärbten platinblonden Haar und dem Glitzerkleid sah sie aus der Ferne noch halbwegs attraktiv aus, doch aus der Nähe war nicht zu übersehen, welche Spuren die vielen Jahre der Not hinterlassen hatten: Unter der dicken Schminke zeichneten sich aufgeschwemmte Wangen ab, und die Nase war mit winzigen geplatzten Äderchen übersät; durch ihre Stirn zogen sich tiefe Falten, und die Augen waren blutunterlaufen. Das Kleid, das sie trug, war für eine viel jüngere und deutlich dünnere Frau geschneidert, und wenn sie die Hände hob, konnte jeder die schlabbrigen Arme sehen. Die langen Jahre des Rauchens und Trinkens und der vielen Sorgen waren ihr anzusehen.
Und jetzt, erkannte Cara, erklärte ihr Denise, dass sie genauso enden würde. Als »Lebenslängliche«, wie die Frauen sich selbstironisch nannten – weil die Arbeit hier ein Gefängnis war, eine Falle, der man kaum wieder entrinnen konnte.
In diesem Moment wurde Cara eines klar: So gern sie diese Frauen auch hatte, sie wollte keinesfalls eine von ihnen werden. Sie hatte sich so nach Danny verzehrt, dass sie in ihre Vergangenheit zurückgefallen war. Sie war erst einundzwanzig – sie hatte noch ihr ganzes Leben vor sich. Sie musste ihr Schicksal wieder in die Hand nehmen, wenn sie nicht hier enden wollte.
Jener Abend rüttelte Cara endgültig wach. Am nächsten Morgen wachte sie zum ersten Mal seit Monaten mit einem festen Ziel auf: Sie wollte entscheiden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Jahrelang hatte sie am äußersten Rand der Gesellschaft leben müssen. Wenn sie gearbeitet hatte, dann nur auf Handschlag und gegen Bargeld. Wenn sie einen richtigen Job wollte, musste sie sich eine legale Existenz zulegen.
Sie machte sich auf den Weg zum Arbeitsamt, um festzustellen, wie sie das bewerkstelligen konnte. Wie sich herausstellte, war das gar kein Problem. Nachdem sie in England zur Welt gekommen war, konnte sie eine Sozialversicherungsnummer beantragen, mit der eine Arbeitserlaubnis verbunden war.
Als Nächstes musste sie entscheiden, was sie tun wollte. Ohne weitere Qualifikation blieben ihr nur wenige Möglichkeiten. Sie musste einen Beruf erlernen – sie wusste nur noch nicht, welchen.
Doch schon auf dem Weg zur Arbeit fasste sie einen Entschluss. In der U-Bahn hingen Anzeigen für Sekretärinnenkurse: Bilder von elegant gekleideten Frauen mit einem Diplom in Händen, die mit glänzenden Augen entschlossen in die Zukunft blickten. Bis dahin hätte Cara sich nicht träumen lassen, dass sie jemals in einem Büro arbeiten könnte, aber plötzlich erschien ihr alles möglich.
Einen Monat später meldete sie sich im Pitman Training Centre in Holborn an.
Es waren vier zermürbende Monate für Cara. Tagsüber ging sie in den Unterricht, abends arbeitete sie im Flirt, um Geld zu verdienen. Gewöhnlich kam sie nachts um drei aus dem Club nach Hause. Damit blieben ihr noch ein paar Stunden Schlaf, bevor sie wieder in die Schule musste. Es war ein Vollzeitkurs über sechzehn Wochen. Der Unterricht begann um neun und endete jeden Tag
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