Die vergessene Frau
inzwischen hatte er Jackett und Krawatte abgelegt, die Ärmel hochgekrempelt und Sitzfalten in der Hose. Seine Haltung ließ keinen Zweifel daran, dass er viel zu beschäftigt war, um sich darum zu scheren, wie er aussah oder was seine Mitmenschen von ihm hielten. Jake Wiley gehörte zu der Sorte Mann, die sich nicht in Schale werfen musste, um ernst genommen zu werden.
Genau wie Barbara kam er sofort auf den Punkt. Eindeutig war Zeit hier eine kostbare Währung, die niemand gern vergeudete.
»Und warum möchten Sie bei einer Zeitung arbeiten?«, fragte er ohne Umschweife.
»Weil ich eines Tages selbst Journalistin werden möchte.«
Cara hatte beschlossen, dass sie aufrichtig sein würde, auch wenn das riskant war. Wenn der Chronicle eine gewöhnliche Sekretärin haben wollte, würde man sie vielleicht nicht einstellen, doch sie vermutete, dass es besser war, mit offenen Karten zu spielen. Ihre Strategie schien aufzugehen, denn Jakes Augen leuchteten auf.
»Ach, Sie möchten also schreiben?«
Sie nickte.
»Für wen? Eine dieser Frauenzeitschriften?«
Sie sah ihn kühl an. »Für den Chronicle. «
Er nickte wohlwollend. »Ehrgeizig. Das gefällt mir.«
Jake betrachtete die junge Frau, die vor ihm saß. Ganz objektiv war sie ein echter Augenfang, und das irritierte ihn. Offensichtlich hatte sie sich heute besonders konservativ gekleidet, in ein schwarz-weißes Wollkleid, einen schwarzen Rollkragenpullover und Schnallenschuhe mit niedrigem Absatz. Aber obwohl sie versuchte, von ihrem Aussehen abzulenken, konnte er unmöglich diese langen, wohlgeformten Beine und das betörend knabenhafte Gesicht übersehen – und wenn seine Männer etwas nicht brauchten, dann noch mehr Ablenkung. Barbara war die perfekte Sekretärin gewesen – die Jungs hatten viel zu viel Angst vor ihr, um Scherereien zu machen –, und Jake hätte offen gestanden lieber wieder eine Matrone in reiferen Jahren eingestellt. Aber nachdem sie drei Tage Bewerbungsgespräche geführt hatten, war Cara Healey bei Weitem die am besten qualifizierte Kandidatin, die durch ihre Tür spaziert war. Und wenn er ehrlich war, hatte sie auch sein Herz gewonnen. Sie schien den Job unbedingt haben zu wollen, und das wusste er, der sich von der Pike auf hochgearbeitet hatte, zu schätzen. Er musste nur sicherstellen, dass sie aus dem richtigen Holz geschnitzt war und sich in dem hier herrschenden Chaos durchsetzen konnte.
»Nur um das klarzustellen«, meinte er gedehnt und ließ den Blick dabei über ihren Körper wandern, »wir sind zum Arbeiten hier. Nicht auf der Modeschau.«
Er wollte sie provozieren, und das gelang ihm. Cara sah ihn wütend an. »Eher auf dem Flohmarkt, wie?«, schoss sie zurück und senkte den Blick dabei genauso betont auf seine zerknitterte Hose.
Sie hatte die Worte völlig unbedacht ausgesprochen. Verflucht, dachte sie sich. Den Mann zu beleidigen, der über ihre Einstellung entschied, war nicht besonders klug.
Aber bevor sie sich entschuldigen konnte, lächelte er sie an. »Gut gekontert, Miss Healey. Sie haben eben eine der Schlüsselqualitäten bewiesen, die ich von jemandem in meinem Team erwarte: sich nicht alles gefallen zu lassen.« Er streckte ihr die Hand hin. »Willkommen beim London Chronicle. Wenn Sie möchten, haben Sie den Job.«
Kapitel 46
London Chronicle, 15. November 1969
Einem Bericht der LA Times zufolge leidet der amerikanische Milliardär Maximilian Stanhope an Lungenkrebs. Gut informierte Quellen haben bestätigt, dass ihm vor Kurzem eine Lunge entnommen wurde. Zurzeit erholt er sich auf seinem kalifornischen Wohnsitz Stanhope Castle von der Operation, um sich anschließend einer Chemotherapie zu unterziehen.
Mr Stanhope lebte in den letzten Jahren völlig abgeschieden. Seit dem Tod seiner zweiten Frau Frances Fitzgerald im Jahr 1959 hat er sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Nach ihrem tödlichen Autounglück, das offiziell als Unfall bezeichnet wurde, hat der Geschäftsmann Stück für Stück sein Vermögen liquidiert und wohnt seither allein mit seiner Tochter Olivia auf Stanhope Castle. Sein Sohn Gabriel hat seit einem Jahrzehnt nicht mehr amerikanischen Boden betreten. Man nimmt an, dass er sich in Nordafrika aufhält.
Niemand aus dem engeren Kreis um Mr Stanhope war bereit, sich zu dieser Meldung zu äußern.
Kapitel 47
Dezember 1969
Das Pub war gesteckt voll. Rotnasige Journalisten in abgetragenen Anzügen mischten sich mit Druckern in Jeans, die gleich in die Nachtschicht mussten.
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