Die vergessene Frau
Monat«, murmelte Franny. »Vielleicht auch schon im fünften.«
»Na, dann ist es wahrscheinlich sowieso zu spät, es noch wegmachen zu lassen«, urteilte Annie.
Das Mädchen sah sie fassungslos an. »Und was soll ich nun machen?«
In Frannys Stimme schwang echte Angst. Annie erkannte, dass die junge Frau von ihr nicht nur eine Antwort, sondern eine Lösung ihrer Probleme erhoffte. Und obwohl Annies Selbsterhaltungsinstinkt energisch dagegen protestierte, war sie fast geneigt, gegen ihre wichtigste Regel zu verstoßen und Mitleid mit dem Mädchen zu empfinden. Noch während Franny ihre Geschichte erzählt hatte, hatte Annie plötzlich eine Idee, und nun beschloss sie, dem Mädchen davon zu erzählen.
»Also schön, vielleicht kann ich Ihnen helfen. Sie sollten hierbleiben, bis Sie wissen, was Sie wollen. Natürlich nicht umsonst«, schränkte sie sofort ein, damit das Mädchen nicht auf dumme Gedanken kam. »Wir sind hier nicht die Wohlfahrt – Sie müssten Miete zahlen wie jeder andere auch. Aber ich würde Ihnen einen guten Preis machen. Ich brauche hier Hilfe, und im Austausch könnten Sie das Zimmer behalten, in dem Sie jetzt wohnen. Außerdem weiß ich von ein paar Putzstellen, wo Sie sich etwas dazuverdienen könnten. Damit hätten Sie etwas Luft. Und wenn Sie das Kind erst bekommen haben, können Sie immer noch entscheiden, was Sie dann machen wollen.«
Verblüfft sah Franny die Hauswirtin an. Damit hatte sie bestimmt nicht gerechnet, als die wuchtige Frau vorhin an ihre Tür gehämmert hatte. »Das würden Sie wirklich für mich tun?« Sie klang fast verwirrt und schien ihr Glück kaum fassen zu können. »Aber warum?«
Annie zuckte mit den Achseln, als wäre nicht viel dabei. »Sie scheinen mir ein nettes Mädchen zu sein, und dieser Kerl, der Sie sitzenlassen hat, hört sich nach einem richtigen Halunken an.« Sie grunzte abfällig, um keinen Zweifel daran zu lassen, was sie von dem Kindsvater hielt. »Sie sind nicht die Erste, die mit einem Kind im Bauch im Stich gelassen wird, und Sie werden bestimmt nicht die Letzte sein. Wir haben das alle mal durchgemacht, Liebes, und so wie ich es sehe, müssen wir Frauen zusammenhalten, meinen Sie nicht auch?«
Unversehens schloss Franny die ältere Frau in die Arme.
»Danke, danke, danke!«
Verlegen angesichts dieser überschwänglichen Dankbarkeit schob Annie das Mädchen sanft von sich. »Ach, das ist doch nicht der Rede wert«, meinte sie ruppig. »Wenn Sie erst einmal einen ganzen Tag auf Händen und Knien irgendeiner hochnäsigen Ziege die Böden geschrubbt haben, werden Sie mir nicht mehr so dankbar sein.«
Aber trotz ihrer harschen Worte war Annie Connolly insgeheim froh über das Arrangement. Es wäre bestimmt nett, dachte sie, noch eine Frau im Haus zu haben.
Kapitel 5
Islington, London, Februar 1949
Mrs Simpson strich mit dem Zeigefinger über den Kaminsims und suchte nach Staub. Franny stand nervös neben ihr. Das war immer das Schlimmste. Dass sie das ganze Haus putzen musste, konnte sie noch hinnehmen, aber dass die alte Ziege danach jedes Mal alle Räume abging, um akribisch zu kontrollieren, was sie getan hatte, war scheußlich. Schließlich arbeitete sie mittlerweile fast zwei Jahre hier und würde kaum plötzlich anfangen zu schlampen.
»Haben Sie das gute Silberbesteck poliert?« Der aristokratische Akzent war aufgesetzt, die herablassende, pampige Art war es nicht. Vielleicht wäre ihre Hochnäsigkeit Franny weniger aufgestoßen, wenn sie in einer jener großen weißen Stadtvillen in Mayfair oder Belgravia geputzt hätte, aber dort hatte man Festangestellte, die im Haus wohnten. Darum musste sie mit Emporkömmlingen wie Mrs Simpson vorliebnehmen, Hausfrauen der Mittelklasse, die in neu gebauten Doppelhaushälften in Islington oder Hampstead lebten und mit leitenden Angestellten verheiratet waren – jener Schicht, die sich erst seit Kurzem eigene Haushaltshilfen leisten konnte und gern auf ihre Putzfrauen hinabsah, um sich ihres gesellschaftlichen Standes zu vergewissern.
Franny bemühte sich, ihre Ungeduld nicht zu zeigen. Sie konnte es kaum erwarten, aus dem Haus zu kommen.
»Ja, Madam. Und das Kristall abgestaubt«, kam sie der nächsten Frage zuvor. Sie hasste die Glastiersammlung der Lady und verstand beim besten Willen nicht, wie man so stolz auf diesen hässlichen Tinnef sein konnte. Franny war gewarnt worden, dass ihr der Lohn gekürzt würde, falls sie eines davon fallen ließ. »Ist das alles?«
Nachdem der älteren
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