Die vergessene Frau
zurechtgelegt, derzufolge sie einen Artikel über Erziehung in staatlichen Institutionen schreiben wolle, durch den möglicherweise, ließ sie anklingen, das Spendensammeln erleichtert würde. Sie bat nicht darum, die Kinder sehen zu dürfen, denn sie ahnte, dass man dann sofort hellhörig würde.
Nach San Francisco fuhr man drei Stunden. Cara brach früh am nächsten Morgen auf und war gegen Mittag dort. Das Waisenhaus lag in einem wohlhabenden Teil der Stadt, und als sie an den eleganten Stadthäusern der Lombard Street vorbeifuhr, ging ihr durch den Kopf, dass dies bestimmt eine angenehme Wohngegend war. Ihr Wagen mühte sich den Telegraph Hill hinauf, unter dessen Kuppe das Waisenhaus lag. Sie fand einen Parkplatz, zog mit aller Kraft die Handbremse an und wappnete sich, das Waisenhaus der Sisters of Charity zu betreten.
Cara hatte befürchtet, dass an diesem Ort unangenehme Erinnerungen wach werden könnten, aber zu ihrer Erleichterung hatte dieses Waisenhaus nichts mit dem St. Mary’s in Galway gemein. Vielleicht war das Kloster früher ein düsterer grauer Steinbau gewesen, ein Hort der Kasteiung und Abstinenz, doch man hatte sich wirklich Mühe gegeben, ihn einladend und freundlich zu gestalten. Die Außenmauern waren inzwischen in hellem Zitronengelb gestrichen, und über der Tür hing ein fröhliches handgemaltes Schild, das alle Besucher im Waisenhaus willkommen hieß.
Die Mutter Oberin wartete bereits vor dem Eingang, um Cara zu begrüßen. Sie war überraschend jung, vielleicht Anfang vierzig. Cara schloss die rundliche, fröhliche Frau mit den rosigen Apfelwangen und dem freundlichen, breiten Lächeln sofort ins Herz.
»Wie schön, dass Sie uns besuchen kommen!« Sie nahm Caras Hand und drückte sie. »Kommen Sie, wir gehen in mein Büro, dort können wir uns unterhalten.«
Innen wirkte das Gebäude genauso freundlich wie von außen. Bunte Wandmalereien überzogen die Mauern. Einige kündeten von echtem Talent; andere waren eindeutig von jüngeren Kindern gemalt worden und zeigten deutlich mehr Enthusiasmus als Können. Während sie tiefer in das Gebäude vordrangen, konnte Cara draußen fröhliches Gelächter hören. Sie sah die Mutter Oberin fragend an.
»Es ist Spielzeit«, erklärte ihr die Nonne.
Genau in diesem Moment kam sie an einem langen, schmalen Fenster vorbei, durch das man in den großen Hof sah. Draußen spielten Dutzende von Kindern und verbrachten fröhlich ihre Pause: Es gab Mädchen mit Springseilen, Basketballkörbe, Klettergerüste, Schaukeln und Karussells. Das hier war nicht zu vergleichen mit dem Waisenhaus in Irland. Cara war erleichtert – immerhin wuchs Olivias Kind in einer angenehmen Umgebung auf.
»Wir hatten vergangenes Jahr einen Spendenlauf organisiert. Damit haben wir die ganzen Sachen finanziert«, erläuterte ihr die Mutter Oberin stolz.
Die Ausstattung ihres Büros beschränkte sich auf einen Schreibtisch, zwei Stühle und ein paar Aktenschränke. An der Wand hingen ein schlichtes Kruzifix und das Bild der Muttergottes mit dem Jesuskind. Cara fragte sich, wie sie das Gespräch unauffällig auf das Kind lenken sollte, aber die Mutter Oberin kam ihr zuvor. Zurückgelehnt in ihrem Stuhl sitzend lächelte sie Cara an.
»Warum erzählen Sie mir nicht, weshalb Sie wirklich hier sind?«
»Ich wollte mich nach einem Kind erkundigen«, gestand Cara. »Die Kleine muss Anfang Dezember 1958 hergebracht worden sein. Und sie heißt Sophie.«
Merkwürdig, dachte die Mutter Oberin, dass diese Engländerin nach so vielen Jahren hier auftauchte, um sich nach Sophie zu erkundigen. Sie hätte sich das damals nicht träumen lassen, doch jener Abend vor vierzehn Jahren hatte den Lauf ihres Lebens entscheidend beeinflusst. Damals war sie noch die kleine Schwester Marie gewesen, eine unsichere Novizin, die nicht recht wusste, ob sie wirklich ihr Gelübde ablegen sollte. Aber dann hatte die damalige Mutter Oberin, deren Herz erst in diesem Jahr im Alter von achtzig Jahren zu schlagen aufgehört hatte, die Ankunft dieses merkwürdigen, mysteriösen Babys genutzt, um der Novizin ihre wahre Berufung aufzuzeigen. Das Band zwischen Schwester Marie und der kleinen Sophie hatte die Zukunft der Nonne entscheidend beeinflusst.
Während des ersten Jahres, in dem sie für Sophie verantwortlich war, reifte Schwester Marie von einem jungen, flatterhaften Mädchen zu einer fürsorglichen jungen Frau heran, die ihre Pflichten ernst nahm. Bevor die Mutter Oberin im Januar dieses Jahres
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