Die vergessene Frau
gestorben war, hatte sie deutlich gemacht, dass sie Schwester Marie gern als ihre Nachfolgerin sehen würde. Die anderen Nonnen und die Kirchenleitung hatten ihrem Wunsch einstimmig entsprochen.
Diese faszinierende dunkelhaarige junge Frau brauchte allerdings nicht zu wissen, welchen umwerfenden Einfluss die kleine Sophie auf das Leben der Nonne hatte.
»Und was wollen Sie von Sophie?«, fragte die Mutter Oberin stattdessen.
»Ich will sie einfach nur sehen«, sagte Cara. »Ich will mich überzeugen, dass es ihr gut geht. Wissen Sie, wo sie jetzt lebt?«
Die Mutter Oberin studierte die junge Frau, die vor ihr saß. Vielleicht hätte jemand anderes an den Absichten dieser Fremden gezweifelt. Doch die Mutter Oberin hielt sich für eine gute Menschenkennerin, und sie spürte, dass diese Cara Healey, wer sie auch sein mochte, dem Kind nicht schaden wollte, darum beschloss sie, ehrlich zu antworten.
»Aber ja, natürlich weiß ich, wo Sophie jetzt ist.« Die Nonne nickte zum Fenster hin. »Sie ist draußen beim Spielen.«
Cara fehlten die Worte. Sie hatte erwartet, dass die Mutter Oberin ihr erzählen würde, das Mädchen sei von einer netten, liebevollen Familie adoptiert worden und es sei besser, sie zu vergessen. Die Erkenntnis, dass sie hier war, nur ein paar Schritte entfernt, änderte alles.
»Glauben Sie, ich könnte mit ihr sprechen?«, fragte Cara.
Die Mutter Oberin zögerte kurz. »Ja, ich denke, das würde gehen«, antwortete sie schließlich. »Aber Sie sollten vorbereitet sein.«
»Worauf denn?«
»Sie müssen wissen, dass Sophie nicht so ist wie andere Kinder. Sie ist jemand Besonderes. Sie werden das verstehen, wenn Sie sie kennenlernen.«
Während die Nonne das Kind holen ging, rätselte Cara, was in aller Welt sie damit meinte.
Erst nach zehn Minuten stand die Mutter Oberin wieder in der Tür.
»Ich muss Sophie noch überzeugen hereinzukommen. Sie ist schrecklich schüchtern.«
Sie drehte sich zu dem Kind um, das offenbar draußen stehen geblieben war, wo Cara es nicht sehen konnte. Cara fand das eigenartig. Das Mädchen war inzwischen fast vierzehn. Dass jemand in diesem Alter noch so menschenscheu war, war ungewöhnlich.
»Jetzt komm, Liebes«, lockte Schwester Marie das Kind. »Du brauchst dich wirklich nicht zu fürchten.«
Es blieb kurz still. Dann wurde die Tür zaghaft aufgezogen, und Cara stand auf. Sie war eigenartig nervös vor dieser ersten Begegnung mit Olivias Kind.
Ein Mädchen trat durch die Tür. Ein blondes, hellhäutiges Mädchen, Olivias genaues Ebenbild.
Nur dass …
Nur dass Cara sah, dass etwas mit Sophie nicht stimmte, als die Mutter Oberin das Mädchen sanft in den Raum schob. Sophie schlurfte mit unsicheren, tapsigen Schritten vorwärts, der Kopf wackelte haltlos von links nach rechts, und der Blick wanderte ziellos im Zimmer umher. Und plötzlich wusste Cara, warum ihre Mutter und Max beschlossen hatten, Sophie nicht bei sich zu behalten – weil sie nicht das perfekte Kind war, das sie sich ersehnt hatten.
Kapitel 56
Stanhope Castle, Juni 1958
In jener Nacht wurde die Sache in Max’ Arbeitszimmer entschieden. Olivia würde das Kind bekommen, ohne dass jemand davon erfuhr, und dann würden sie es als ihr eigenes aufziehen. Für Franny lag die Lösung auf der Hand. Max wollte ein Baby, aber so wie es aussah, konnten sie keines mehr bekommen. Olivia trug ein Kind im Bauch, das sie nicht behalten konnte, ohne zum gesellschaftlichen Paria zu werden. Auf diese Weise wäre allen geholfen. Und Franny selbst? Nun, sie sah das als ihre zweite Chance; als ihre Möglichkeit, etwas Gutes zu tun. Sie hatte sich nie verziehen, dass sie Cara damals allein gelassen hatte – Olivia sollte nicht bis an ihr Lebensende mit der gleichen Last leben müssen. Und sobald das Kind auf der Welt war, würde Franny Max von ihrer eigenen Tochter erzählen. Wenn sie ihm jetzt half, würde er Cara bestimmt in seinem Haus aufnehmen.
Die größte Schwierigkeit bestand darin, Max zu überzeugen. Anfangs wollte er nicht, weil er sich Sorgen machte, dass diese Lösung Olivia überfordern könnte.
»Wie soll sie damit zurechtkommen – dass sie das Baby jeden Tag sieht, ohne je zugeben zu können, dass es ihr Kind ist? Das kann jemand in ihrem Alter kaum verarbeiten.«
Mit diesem Einwand hatte Franny gerechnet.
»Aber wie sieht die Alternative aus?«, fragte sie. »Willst du sie zwingen, es wegmachen zu lassen?«
Max wich erschrocken zurück, genau wie sie vorausgesehen hatte. »Nein,
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