Die vergessene Frau
natürlich nicht!«
»Was schlägst du dann vor?«, konterte Franny energisch. »Dass sie das Kind bekommt – dass sie sieht, wie es das erste Mal Luft schöpft, dass sie es in ihren Armen hält –, nur um es gleich darauf einem Fremden auszuhändigen, ohne die Aussicht, es je wiederzusehen? Wenigstens kann Olivia immer noch am Leben ihres Kindes teilhaben, wenn wir es bei uns aufziehen.«
Max antwortete nicht, und sein Schweigen ließ Franny Hoffnung schöpfen. Sie schob die Hand in seine. Sie wusste, dass sie das Richtige taten – sie musste es Max nur begreiflich machen.
»Es ist für alle die beste Lösung«, sagte sie sanft. »Glaub mir.«
Max fuhr sich müde mit der Hand übers Gesicht. Das Drama mit seiner Tochter hatte ihn zutiefst erschüttert. Im Moment war er mit jeder Lösung einverstanden. Resigniert sah er seine Frau an.
»Vielleicht wäre es am besten, wenn du ihr erzählst, was uns vorschwebt?«
Franny saß am Bett ihrer Stieftochter. Unter der Bettdecke zusammengerollt lauschte Olivia den Erklärungen ihrer Stiefmutter, was ihrer Meinung nach passieren sollte. Mit ihrer Wärmflasche und der Tasse mit heißem Kakao kam sie sich fast vor wie ein Kind, das krank im Bett liegt. Die Vorstellung, dass in ihrem Bauch ein Baby heranwuchs, war ihr immer noch unheimlich. Irgendwie erschien ihr die ganze Situation unwirklich. Monatelang hatte sie das Problem weggeschoben und gehofft, dass sich irgendwie alles von selbst regeln würde. Als Franny heute die Wahrheit herausgefunden hatte, war Olivia fast ein Stein vom Herzen gefallen. Immerhin hatte sie jetzt jemanden, mit dem sie ihre Last teilen konnte.
»Und was hältst du von unserem Plan?«
Olivia sah zu ihrer Stiefmutter auf. Franny versuchte ihre Begeisterung zu kaschieren, aber Olivia hörte sie ihr trotzdem an. Franny hoffte inständig darauf, dass Olivia ihren Vorschlag, ihr Vater und Franny sollten das Kind großziehen, gutheißen würde. Alles in allem war es wohl die beste Lösung. Schließlich hatte sie keine Alternative anzubieten. Außerdem war sie so verängstigt und fürchtete sich seit Monaten so schrecklich vor dem, was auf sie zukam, dass es angenehm war, die Entscheidung einem Erwachsenen zu überlassen.
»Ich glaube, du hast recht«, sagte sie schließlich. »Das wäre wahrscheinlich das Beste.«
»Ach, mein Schatz.« Franny nahm Olivia in die Arme. Falls sie merkte, dass ihre Stieftochter die Umarmung nicht erwiderte, sah sie großzügig darüber hinweg. Schließlich richtete sie sich wieder auf. Tiefernst versprach sie: »Wir stehen das durch, mein Kleines, das verspreche ich dir. Ich weiß, im Moment hast du wahrscheinlich das Gefühl, nicht mehr ein noch aus zu wissen, aber im Lauf der Zeit wirst du merken, dass es so am besten ist. Außerdem bin ich da und passe auf, dass du alles hast, was du brauchst.«
Sie sah Olivia erwartungsvoll an. Das Mädchen bekam das Gefühl, es sollte etwas antworten. »Danke?«
Sie sagte das fast wie eine Frage. Franny strahlte. »So, damit ist das geklärt. Soll ich dir noch etwas bringen?«, fragte sie.
Olivia schüttelte den Kopf und überlegte, wie sie es wohl schaffen konnte, dass ihre Stiefmutter sie alleine ließ. »Nein danke. Ich bin einfach nur müde. Ich würde jetzt gern ein bisschen schlafen, wenn es dir nichts ausmacht.«
Diese Worte entfalteten, wie sie im Lauf der kommenden Monate feststellen sollte, eine magische Wirkung. »Natürlich bist du müde. Wie gedankenlos von mir – ich lasse dich nun allein. Lass es mich nur wissen, wenn du etwas brauchst.«
Olivia lächelte matt zu ihr auf.
Kaum war ihre Stiefmutter aus dem Raum, stand Olivia auf und ging zu ihrer Kommode. Dort lag unter einem Stapel säuberlich zusammengefalteter Schals die Flasche Gin, die sie organisiert hatte. Sie hatte mit Trinken angefangen, nachdem sie in der Schule ein paar Mädchen belauscht hatte, die behauptet hatten, mit reichlich Gin und einem heißen Bad könnte man ein ungewolltes Baby loswerden. Bis sie endlich begriffen hatte, dass der Alkohol nicht wirkte, hatte sie Geschmack daran entwickelt. Zumindest half er ihr vorübergehend zu vergessen. Und nach den Ereignissen dieses Tages wollte sie nichts lieber als das.
Die Täuschung musste genau geplant werden. Es wurde entschieden, dass Olivia sofort von der Schule genommen werden sollte. Dass sie sich in letzter Zeit von ihren Freundinnen entfremdet hatte und vom Unterricht suspendiert worden war, erwies sich dabei als praktisch – das war
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