Die vergessene Frau
wirklich schrecklich nett von dir, aber ich bin im Augenblick kein schöner Anblick. Ehrlich, du würdest schreiend davonlaufen, wenn du mich so sehen könntest!«
Doch Lily ließ sich von ihren Beteuerungen nicht abschrecken.
»Es ist doch alles in Ordnung bei euch, oder?«, bohrte sie. »Max behandelt dich gut?«
»Er ist ein wahrer Schatz.«
»Na schön, solange du dir sicher bist.« Lily klang nicht überzeugt, aber mehr konnte sie nicht tun.
Dass ihre Freundin glaubte, Max würde sie in irgendeiner Hinsicht schlecht behandeln, traf Franny schwer. Doch das würde sich alles wieder einrenken, wenn das Baby erst geboren war und sie sich wieder in der Öffentlichkeit zeigen konnten, um der Welt zu demonstrieren, was für eine glückliche kleine Familie sie waren.
Einen Monat vor dem vermutlichen Geburtstermin ging Franny nach oben in Olivias Zimmer, um ihr ein paar Babysachen zu zeigen, die Hilda gestrickt hatte. Es war noch früh am Abend, und ihre Stieftochter war fast den ganzen Tag in ihrem Zimmer geblieben – was in letzter Zeit immer öfter vorkam. Franny klopfte leise an und hörte eine gedämpfte Antwort, die sie, wie sie meinte, zum Eintreten aufforderte. Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf, so wie immer, wenn sie über etwas reden wollte, das mit dem Baby zu tun hatte, und öffnete die Tür. Aber sobald sie eintrat, blieb sie erstarrt stehen. Olivia lag zusammengerollt auf dem Sofa am Fenster, in der Hand eine Flasche Gin.
Als Olivia Franny bemerkte, drehte sie ihr den Kopf zu.
»Ich hab doch gesagt, du sollst draußen bleiben «, fuhr das Mädchen sie mit trübem Blick an.
Olivia war betrunken.
Franny brauchte eine Sekunde, um zu begreifen. Dann stürmte sie ins Zimmer und riss ihrer Stieftochter die Flasche aus der Hand.
»Du dummes Ding!«, brach es aus ihr heraus. »Weißt du eigentlich, wie sehr du damit dem Baby schaden kannst?«
Olivia stand schwankend auf. »Das ist das Einzige, was euch interessiert, oder? Das Baby. Mich nicht. Ich will’s nicht mehr haben.« Sie schnappte Franny die Flasche wieder weg und nahm einen tiefen Schluck.
Franny holte aus und versetzte ohne jedes Überlegen ihrer Stieftochter eine Ohrfeige. Das Mädchen taumelte rückwärts, versuchte sich an einem Beistelltisch festzuhalten, strauchelte und kippte nach hinten weg.
»O Gott!« Olivia heulte vor Schmerz auf.
Franny schlug die Hand vor den Mund. Was hatte sie da angerichtet? Was für ein Mensch war sie eigentlich, ein junges, hochschwangeres Mädchen zu schlagen?
»Bitte verzeih mir!«
Franny streckte die Hand aus, um ihrer Stieftochter aufzuhelfen, aber Olivia reagierte nicht. Stattdessen sah sie zornentbrannt zu ihr auf. »Du Schlampe!«, zischte sie. Sie öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, doch im selben Moment krümmte sie sich unter Schmerzen – nur dass es keine Schmerzen wie nach einem Sturz waren, sondern die der ersten Wehe.
Franny starrte entsetzt ihre Stieftochter an. Das Baby war unterwegs.
Olivia schrie aus Leibeskräften. Ihr Heulen hallte durchs ganze Haus, dass sich die Härchen auf Frannys Armen aufstellten. Die Angestellten waren heimgeschickt worden, und Franny wünschte sich, sie hätte mit ihnen fahren können. Am liebsten hätte sie sich die Hände auf die Ohren gepresst, um das Schreien nicht mehr hören zu müssen, und die Augen zugekniffen, damit sie das Blut nicht mehr sah. Das viele, viele Blut.
Zum Glück war Hilda da. Sie hatte das Kommando übernommen. Max marschierte ängstlich vor der Tür auf und ab, war aber gleichzeitig froh, das Gebären den Frauen überlassen zu können.
»Ruhig jetzt«, redete die Haushälterin auf Olivia ein. »Mach nicht so einen Wirbel. Das haben schon Millionen Frauen vor dir durchgestanden, ohne deshalb so ein Gezeter zu machen.«
Franny erinnerte sich an ihre eigenen Wehen und trat zu Olivia, die nackt und elend auf dem Bett lag, aber zu sehr litt, als dass ihr das etwas ausgemacht hätte. Das Mädchen sah mit weiten, ängstlichen Augen zu ihr auf. »Bitte mach, dass es aufhört«, bettelte Olivia. »Ich halte das nicht länger aus.«
Franny nahm die Hand ihrer Stieftochter. »Bald hast du es überstanden«, versprach sie ihr.
Aber selbst in ihren Ohren klang sie unglaubwürdig.
Olivia schrie wieder auf.
Zwölf lange Stunden in Wehen. Schreiend. Blutend. Wieder schreiend.
Im Lauf des Abends wurden die Schreie allmählich leiser. Um Mitternacht lag Olivia völlig ermattet auf dem Bett, mit Schweiß überzogen, das fahle
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