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Die vergessene Frau

Die vergessene Frau

Titel: Die vergessene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tara Hayland
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Castle, Dezember 1959
    Im Lauf der Monate stellte sich auf Stanhope Castle eine Art angespannter Normalität ein. Olivia war immer noch im Cranfield House untergebracht. Einmal wöchentlich fuhren Franny und Max sie besuchen. Die Ärzte hatten die Elektroschocktherapie für erfolgreich befunden, Franny hingegen war weniger überzeugt. Zwar hatte Olivia seit der Behandlung aufgehört, hysterisch zu weinen, dafür starrte sie jetzt den ganzen Tag apathisch ins Leere.
    Gabriel ahnte nichts von dem, was seiner Schwester widerfahren war. Er studierte inzwischen in Stanford und war länger nicht mehr zu Hause gewesen. Max wusste immer noch nicht, wie er seinem Sohn begreiflich machen sollte, was mit Olivia passiert war. Irgendwann würde er sich diesem Problem stellen müssen, aber erst musste er ein drängenderes angehen, das seine Frau betraf.
    Es war Max, der schließlich darauf bestand, dass Franny zu einem Arzt ging. Er verlangte es nach dem Durcheinander wegen Hunters Geburtstagsfeier, als sie komplett vergessen hatte, dass sie sich erst dort treffen wollten. Franny kam ihm schon seit einigen Monaten verwirrt vor. Ständig war sie müde, den halben Tag blieb sie im Bett, und wenn sie dann aufstand, wirkte sie zerstreut, so als könnte sie sich auf nichts konzentrieren. Von ihrer schlimmer werdenden Ungeschicklichkeit ganz zu schweigen. Am ganzen Leib hatte sie blaue Flecken, und er wusste genau, dass viele glaubten, die habe sie ihm zu verdanken. Er sorgte sich schon länger um sie. Dieses lethargische, schicksalsergebene Wesen war nicht die Frau, die er geheiratet hatte.
    »Das geht schon zu lange so«, meinte er eines Tages. »Du bist irgendwie nicht mehr du selbst, Liebes. Und zwar schon lange.«
    Sie sah lustlos zu ihm auf. »Es geht mir gut«, meinte sie tonlos.
    »Nein, verflucht noch mal. Ich bestehe darauf.« Er nahm sie in die Arme. »Du bist mir zu kostbar. Ich kann nicht zulassen, dass noch einmal einer Frau, die ich liebe, etwas Schlimmes zustößt. Das würde ich nicht ertragen.«
    Dr. Robertson hatte Franny während der letzten Monate mehrmals untersucht. Er hatte eine Depression diagnostiziert und dabei angenommen, dass sie von der Sache mit Olivia herrührte, die für niemanden leicht zu verarbeiten war. Doch als Max so darauf beharrte, dass mit ihr etwas nicht stimmte, das nicht nur psychische Ursachen haben konnte, suchte er nach einer anderen Erklärung.
    Wie leicht hätte man den wahren Grund für ihre Schwierigkeiten übersehen können. Die Symptome waren so alltäglich: Ängstlichkeit und Depression; mangelnde Koordination und Vergesslichkeit. Aber als er Franny in den Raum kommen sah, erkannte er, dass sie anders als früher nicht mehr zu schweben schien, sondern dass ihr Schritt unsicher wirkte und sie die Hände wie abgehackt bewegte. Diese mit bloßem Auge fast nicht erkennbaren Veränderungen ließen bei ihm alle Alarmglocken schrillen. Um seinen Verdacht zu bestätigen, überwies er sie an einen alten Freund, Dr. Gillon, einen der führenden Neurologen in den Vereinigten Staaten.
    Dr. Gillon brachte Franny dazu, die Symptome in allen schmerzlichen Details zu schildern, und führte danach ein paar Tests durch, um ihre Augenbewegungen, ihr Gehör, ihre Reflexe und ihre Koordination zu testen. Danach hörte er sie über ihre Familiengeschichte aus. Vor allem schien er sich für den Tod ihres Vaters zu interessieren, den sie damals nicht miterlebt hatte, weshalb sie sich alles ins Gedächtnis rief, was ihre Mutter ihr später erzählt hatte: dass er nach jahrelanger Abstinenz anscheinend wieder zu trinken begonnen und eines Morgens den Traktor in einen Graben gesteuert hatte, wo er an seinen Verletzungen gestorben war.
    Dr. Gillon hörte sich Frannys Darstellung nickend an. Das Gespräch machte ihr mehr und mehr Angst.
    »Und?«, wollte sie schließlich wissen, als sie es nicht mehr aushielt. »Wissen Sie, was mit mir nicht stimmt?«
    Sein Seufzen ließ auf keine angenehme Antwort schließen. »Es tut mir leid, aber ich befürchte, Sie leiden an Chorea Huntington.«
    Die Chorea Huntington sei berüchtigt, weil sie so schwer zu diagnostizieren sei, erklärte ihr Dr. Gillon. Bis zum neunzehnten Jahrhundert hatte man die Kranken oft als Hexer verfolgt oder für besessen gehalten. Auch heute werde die Krankheit noch oft fälschlich als Alkoholismus oder Geisteskrankheit diagnostiziert.
    »Eigentlich können Sie sich glücklich schätzen«, schloss der Arzt. »Wenigstens wissen Sie jetzt

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