Die vergessene Frau
Ein riesiges Feuer brannte im Kamin und hieß sie willkommen. Die Angestellten des Hotels entzündeten es allabendlich um sechs Uhr, erklärte ihr Clifford.
Er trat an die Hausbar, schenkte eine nach Whisky aussehende Flüssigkeit in ein Glas und hielt die Karaffe dann über ein zweites. »Auch einen?«
»Bitte.« Sich Mut anzutrinken konnte nicht schaden.
Trotz des Feuers schlotterte sie. Clifford hörte ihre Zähne klappern und legte die Stirn in Falten.
»Was ist los? Ist dir kalt?«
Er klang ein bisschen verärgert. Franny merkte an seinem Verhalten, dass er mehr Begeisterung von ihr erwartet hätte. Sie sah die Tür zum Bad und damit einen Fluchtweg. »Lass mir einen Moment Zeit, damit ich mich frisch machen kann.«
Drinnen drehte sie die Wasserhähne bis zum Anschlag auf, um alle Geräusche zu übertönen, dann sackte sie vor der Toilette zusammen und übergab sich. Als sie sicher war, dass sie alles von sich gegeben hatte, stand sie wieder auf und trat ans Waschbecken. Beim Blick in den Spiegel war sie erschrocken, wie blass und zittrig sie wirkte. Ihr einziges Guthaben war, dass Clifford sie begehrte, und welcher Mann würde sie schon so sehen wollen?
Reiß dich zusammen, schalt sie sich. Du willst Schauspielerin werden? Dann nimm das hier als dein erstes Vorspielen.
Das half. Sie wusch sich schnell den Mund aus und versuchte, so zu tun, als würde sie in einem Film spielen. Erst frischte sie ihr Make-up auf: Die Mascara betonte ihre grünen Augen, etwas Rouge gab ihren Wangen Farbe, und der dunkelrote Lippenstift verlieh ihr etwas von einem Vamp. Augenblicklich fühlte sie sich besser. Als Nächstes löste sie ihr Haar – Sean hatte es immer am liebsten offen gehabt –, damit sich die vollen roten Locken über ihre Schultern ergossen. Aber die Verwandlung war noch nicht vollkommen. Sie musste jemand ganz anderes sein, wenn sie das Bad verließ, zumindest solange sie mit diesem Mann zusammen war. Also holte sie tief Luft und begann ihr Kleid aufzuknöpfen.
Clifford war schon reichlich ungeduldig, als er hörte, wie sich der Schlüssel in der Tür zum Bad drehte.
»Na endlich! Was zum Teufel hast du da drin …«
Franny trat in sein Blickfeld, woraufhin ihm die Worte auf den Lippen erstarben. Mit ihrem Kleid hatte sie auch ihren Büstenhalter und ihr Höschen abgelegt, und jetzt stand sie mit nichts als einem schwarzen Strumpfhalter, durchsichtigen Strümpfen und zehn Zentimeter hohen Absätzen in der Tür. Sie lehnte sich gegen den Rahmen.
»Und?«, wollte sie in einer rauchigen Imitation von Marilyn Monroe wissen. »Hat sich das Warten gelohnt?«
Cliffords Augen tasteten sie von Kopf bis Fuß ab, verharrten auf den vollen Brüsten, deren Nippel sie behutsam mit Lippenstift hervorgehoben hatte, und wanderten von dort aus weiter über ihre schmale Taille zu dem roten Dreieck zwischen ihren Beinen. Er freute sich sichtlich, dass die unbedarfte Naive verschwunden und die Sexbombe, die ihn vorhin angesungen hatte, zurückgekehrt war. Er klopfte auf das Bett. »Warum kommst du nicht her, damit wir das herausfinden können?«
Als alles vorbei war, zog Franny sich hastig und schweigend an und versuchte nicht darüber nachzudenken, was sie gerade getan hatte. Dann blieb sie unschlüssig stehen und sah Clifford an. Er lag rücklings auf dem Bett, hatte die Decke über Beine und Taille gezogen und einen Arm über das Gesicht gelegt, sodass sie unmöglich sagen konnte, ob er schlief oder nicht. Sie klappte den Mund ein-, zweimal auf, um ihn anzusprechen, gab sich jedoch zuletzt damit zufrieden, ihn mit einem Räuspern darauf aufmerksam zu machen, dass sie immer noch im Raum war. Er schlug die Augen auf.
»Was ist?«, grunzte er.
»Ich … äh … Ich wollte nur Bescheid wissen … Wegen der Probeaufnahmen.«
Clifford blieb kurz still, und einen grässlichen Moment fürchtete Franny, er würde sein Versprechen leugnen. Aber dann sagte er: »Ich gebe dir im Club Bescheid«, bevor er die Augen wieder zufallen ließ und ihr damit anzeigte, dass sie entlassen war.
Den ganzen folgenden Tag fühlte sich Franny wie beschmutzt. Clifford hatte zwar versprochen, sich wegen der Probeaufnahmen mit ihr in Verbindung zu setzen, doch sie fragte sich immerzu, was sie tun sollte, wenn er sein Versprechen nicht hielt. Sie hatte keine Garantie, dass er Wort halten würde, und sie konnte nicht ungeschehen machen, was sie getan hatte.
Etwas besser fühlte sie sich erst, als sie am nächsten Abend in den Club kam und dort
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