Die vergessene Frau
sie war zu müde zum Streiten; sie war einfach nur froh, endlich in ihrem Hotel zu sein. Nur dass es kein Hotel war – sondern ein heruntergekommenes Motel. In Frannys Zimmer stand ein Einzelbett mit klumpiger Matratze und staubigen Laken, auf denen sie Blutflecke zu erkennen meinte. Selbst bei geschlossenem Fenster konnte sie den Verkehr auf dem dreispurigen Freeway hören, der direkt vor dem Motel vorbeiführte. Hinter dem Gebäude gab es einen Pool, der offenbar schon vor Monaten abgelassen worden war, denn der Boden des Beckens war mit Bierflaschen und braunen Papiertüten übersät.
Obwohl Franny völlig erschöpft war, fand sie in der Nacht kaum Schlaf. Alles war ganz anders als in England. Zum einen war es heiß, selbst in der Nacht. Es gab einen kleinen, lauten Deckenventilator, aber der nutzte nichts, und das Fenster wollte sie keinesfalls öffnen, weil ihr Zimmer im Erdgeschoss lag und ständig Passanten an ihrem Fenster vorbeigingen, die viel zu laut redeten und lachten, so als hätten sie getrunken. Auch die Menschen waren hier anders; sie waren kurz angebunden und abweisend, so als hätte niemand Zeit für sie. Und das Essen – also, das war auch anders als in England, allerdings auf angenehme Weise. Und es war billig. Zum Abendessen ging sie in den Diner nebenan, setzte sich in eine Nische und bekam eine in Plastik eingeschweißte Speisekarte mit einer verwirrenden Auswahl an Speisen ausgehändigt, die jeweils mit einem kleinen Foto illustriert waren. Sie bestellte frittiertes Hähnchen mit Maisgrütze und einen Erdbeer-Milchshake. Zum Nachtisch gönnte sie sich eine riesige Portion Apfelkuchen mit Vanilleeis und dazu einen zweiten Milchshake. Nach der kargen englischen Küche fühlte sie sich wie im siebten Himmel. Wenn Cara herkam, würde sie sofort mit ihr essen gehen, beschloss sie.
Am nächsten Morgen fuhr Franny mit einem weiteren Taxi zum riesigen Gelände der Juniper Studios. Die Studios lagen an der Gower Street südlich des Sunset Boulevard, nur einen Block von den Paramount Studios entfernt. Als Franny durch das große Tor schritt, musste sie an die zahllosen Stars denken, die vor ihr denselben Weg genommen hatten, und fand es furchtbar aufregend, dass sie jetzt selbst in »Tinseltown« angekommen war. Die Ausmaße des Geländes verschlugen ihr den Atem. Die Juniper Studios in Elstree hatten vielleicht wie ein eigenes Dorf gewirkt, die in Hollywood hingegen waren eine eigene Stadt. Sie wurde im Verwaltungsgebäude erwartet – aber dort kam sie nicht zu Fuß hin, ein Fahrer musste sie mit dem Golfwagen über das Studiogelände kutschieren. Während sie die verschiedenen Sets passierten, fuhren sie von den Pyramiden im alten Ägypten zu den Wohnblocks von New York; von den Bistros in Paris zu den Saloons des Wilden Westens. Franny bestaunte die ständig wechselnden Aufbauten, auch wenn sie ein bisschen enttäuscht war, dass die Gebäude nur aus leeren Hüllen bestanden, teilweise ohne Wände und Mobiliar. Irgendwie störte das den Zauber.
Das Verwaltungsgebäude war in den Zwanzigerjahren im Art déco erbaut worden. Der mehrstöckige Bau war mit weißem Marmor verkleidet, hatte perfekt gerundete Türmchen und lange, schmale Fenster. Innen war er auf traditionelle Weise elegant eingerichtet: mit Mahagonimöbeln und frischen Schnittblumen. Schneidige Herren in Geschäftsanzügen eilten gewichtig vorbei, gefolgt von hübschen Mädchen in Bleistiftröcken und engen Pullovern, die Klemmbretter an ihre vollen Brüste drückten. Alle machten einen geschäftigen und wichtigen Eindruck.
Vor ihrem Flug nach Hollywood hatte Franny dem Produzenten Clifford Walker geschrieben und ihn an ihre bevorstehende Ankunft erinnert. Er hatte ihr eine Nachricht in der Sunset Lodge hinterlassen, dass sie ins Studio fahren und sich dort mit Lloyd Cramer, dem Chef des Besetzungsbüros bei Juniper, treffen sollte. Lloyd war zeitlebens bei Juniper gewesen. Er war ein kluger, sachlicher Mann, der optisch etwas von einem Fuchs hatte und mit seinen fünfzig Jahren zu den mächtigsten Männern im Studio gehörte. Er war dafür bekannt, absolut gerecht, aber ebenso unsentimental zu sein. Falls ein Schauspieler keine Leistung mehr brachte, war er draußen – ganz gleich, wie viel er in der Vergangenheit eingespielt hatte.
In seinem komfortablen Büro studierte Lloyd den jüngsten Neuzugang bei Juniper und versuchte die junge Frau einzuschätzen.
»Sie sind eins von Cliffords Mädchen, habe ich recht?«
Franny nickte
Weitere Kostenlose Bücher